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Bierhoff: "Alle werden profitieren"

Oliver Bierhoff trat zuletzt häufig als Mahner auf. Der Direktor Nationalmannschaften und Akademie weist schon seit langem darauf hin, dass er Reformbedarf in der deutschen Nachwuchsarbeit sieht. Im DFB.de-Interview erklärt Bierhoff, an welche Änderungen er dabei denkt - und warum es die trotz des EM-Triumphs der U 21 braucht.

DFB.de: Herr Bierhoff, die Nationalmannschaft ist mit einer Niederlage in die EURO gestartet. Was bedeutet das mit Blick auf das Spiel gegen Portugal am Samstag?

Bierhoff: Dass man gegen den Weltmeister und Turnierfavoriten Frankreich ein Spiel auch verlieren kann, war uns allen vorher bewusst. Natürlich stehen wir jetzt besonders unter Druck, an der Ausgangslage hat sich nicht viel verändert. Wir müssen gegen Portugal gewinnen, und ich bin sehr optimistisch, dass uns das gelingen wird. Denn gegen Frankreich hat sich die Mannschaft geschlossen, leidenschaftlich und kämpferisch präsentiert.

DFB.de: Die EM hat gerade erst begonnen, ein anderes Turnier ist unlängst zu Ende gegangen: Die U 21-Nationalmannschaft ist unter Trainer Stefan Kuntz, dessen Vertrag Sie im vergangenen Jahr vorzeitig um drei Jahre verlängert hatten, Europameister geworden. Zuletzt hatten Sie eher Alarm geschlagen, dass uns gerade im Nachwuchsbereich viele andere Fußballnationen voraus seien. Widerspricht sich das nicht?

Oliver Bierhoff: Zunächst einmal möchte ich die Leistung der U 21 hervorheben: Der Gewinn der Europameisterschaft ist ein großartiger Erfolg, über den ich mich für die gesamte Mannschaft, für Stefan Kuntz und sein Trainerteam sehr freue. Er ist wichtig für den gesamten DFB und seine Mitarbeiter*innen, die nach den zuletzt schweren Monaten endlich mal wieder stolz sein können auf ihren Arbeitgeber. Sie haben gute Nachrichten verdient, weil sie sehr gute Arbeit leisten. Unsere Direktion Nationalmannschaften und Akademie etwa, in der wir uns im gesamten Team um alle Mannschaften kümmern, hat auch die Turniervorbereitung der U 21 nach Kräften unterstützt. Natürlich ist so ein Turniersieg in erster Linie eine Leistung des Trainerteams und der Spieler auf dem Platz, aber das gesamte Team in der Direktion konnte einiges beisteuern. Aber: Der Titel ist kein Widerspruch zu meinen mahnenden Worten.

DFB.de: Warum nicht?

Bierhoff: Trotz des Sieges bei der U 21-EM verschwinden Themen, die wir mit Blick auf die Nachwuchsarbeit der Zukunft angehen wollen, nicht einfach. Die Spiele in Ungarn und Slowenien waren allesamt sehr eng. Unsere Jungs haben aufopferungsvoll gekämpft, sind als geschlossene Mannschaft aufgetreten. Sie haben die Tugenden Willensstärke, Leidenschaft und Optimismus im Teamverbund perfekt verkörpert. Individuell sind andere Nationen aber weiter.

DFB.de: Die U 21 war nicht unbedingt als Favorit in das Turnier gegangen. Im Vorfeld gab es viel Kritik am deutschen Nachwuchs. War die im Rückblick unberechtigt?

Bierhoff: Kritik ist generell wichtig und sorgt dafür, wachsam und ehrgeizig zu bleiben. Uns war es sehr wichtig, gewisse Entwicklungen und Tendenzen, die wir seit einigen Jahren beobachten, anzumahnen und nicht zu warten, bis es zu spät ist. Und wir haben nicht nur gemahnt, sondern auch einen Maßnahmenkatalog vorgelegt. Wir müssen schon genauer hinschauen, auch oder gerade in Zeiten des Erfolgs, das ist die Aufgabe der Sportlichen Leitung. Wie viele unserer Spieler sind tatsächlich Stammkräfte in der Bundesliga? Welche Einsatzzeit bekommen sie auf dem höchsten Level überhaupt? Wir bereiten uns gerade mit der A-Nationalmannschaft auf das zweite EM-Gruppenspiel gegen Portugal vor. Mit Serge Gnabry ist nur einer der U 21-Europameister von 2017 hier dabei. Von den U 21-Finalteilnehmern aus 2019 stehen lediglich Lukas Klostermann, Florian Neuhaus und Robin Koch im EM-Aufgebot. Damit können wir nicht zufrieden sein, diese Quote müssen wir erhöhen.

DFB.de: Sie blicken dabei auf andere Nationen?

Bierhoff: Zum Vergleich: Bei den Niederlanden sind sieben Spieler im Kader bei der EURO dabei, die bei der U 21-EM noch hätten auflaufen können. Bei den Engländern sogar acht. Bei uns steht nur Kai Havertz im Kader, der noch für die U 21 spielberechtigt gewesen wäre. (Jamal Musiala wäre nicht spielberechtigt gewesen, da er bereits für Englands U 21 aktiv war; Anm. d. Red.) Ein anderes Beispiel sind die durchschnittlichen Marktwerte. Speziell die unserer U 18- bis U 21-Innenverteidiger und -Stürmer bleiben weit unter denen von Engländern und Franzosen. Zusammengefasst: Es ist ein Trend bei Einsatzzeiten, Marktwerten und der Anzahl an Spitzentalenten erkennbar, der nach einem Gegensteuern ruft. Umso beeindruckender, was die U 21 mit Teamgeist und Leidenschaft erreicht hat.

DFB.de: Stichwort Spitze: Sie machen deutlich, dass die DFB-Mannschaften, nicht nur die A-Nationalmannschaft, nach ganz oben zurückkehren sollen.

Bierhoff: Ja, wir wollen zurück an die Weltspitze. Das ist unser erklärtes Ziel. Aber dafür ist es zwingend notwendig, mehr Talente herauszubringen, als wir das aktuell tun. Wir haben immer noch vereinzelt Ausnahmespieler, aber wir können nicht mehr auf einen reichen Pool an Talenten zurückgreifen, wie das früher mal der Fall war. Das ist aber unablässig für dauerhaften Erfolg. Es geht darum, in der Spitze eine größere Breite an Talenten zu haben.

DFB.de: Was muss sich dafür ändern?

Bierhoff: Mit dem Projekt Zukunft sind wir dabei, die Weichen zu stellen. Wir wollen Strukturen, Prozesse und Inhalte im deutschen Nachwuchsfußball optimieren, um ihn in eine erfolgreiche Zukunft zu führen. Das geht nur gemeinsam, wenn Basis und Spitze Hand in Hand arbeiten, Profis und Amateure. Diese Einheit brauchen wir.

DFB.de: Können Sie das konkretisieren?

Bierhoff: Es geht um die Talentförderung. Wir wollen den Spieler in den Mittelpunkt unserer Überlegungen stellen: mehr Spaß beim Kicken, mehr Ballkontakte und längere Einsatzzeiten. Und wer hat den direkten Zugriff auf die Spieler? Die Trainer. Deshalb passen wir deren Ausbildung an. Die Lizenztreppe ermöglicht eine deutlich individuellere Begleitung der Trainer, sie vereinfacht den Quereinstieg und die Spezialisierung. Ein U 17-Coach braucht andere Fähigkeiten als ein Profitrainer. Darauf legen wir in der Entwicklung der Trainer ein Hauptaugenmerk.

DFB.de: Was ist daneben noch notwendig?

Bierhoff: Uns schwebt vor, eine mannschaftliche Geschlossenheit wie die der U 21 mit noch mehr individueller Qualität zu paaren, die Einzelspieler mit ihren speziellen Fähigkeiten zu entwickeln. Dann sind wir noch wettbewerbsfähiger. Darauf zahlen zum Beispiel angestrebte Änderungen in den Wettbewerbsstrukturen der Juniorenligen ein. Unsere Aufgabe ist es, die Dringlichkeit aufzuzeigen und die gesamte Fußballfamilie mit ins Boot zu holen: Verbandssportlehrer, Landes- und Regionalverbände. Reformen, die wir jetzt anstoßen, wirken erst nach mehreren Jahren - schaffen wir es, an die Weltspitze zurückzukehren, haben alle im deutschen Fußballsystem etwas davon.

DFB.de: Zurück in die Gegenwart. Haben Sie das Gefühl, dass die Mannschaft sich zu Joachim Löws letztem Turnier als Bundestrainer speziell einschwört? Liegt eine besondere Stimmung in der Luft?

Bierhoff: Absolut. Mit dem Weggang von Jogi Löw endet eine Ära. Als er seine Arbeit beim DFB begann, gingen einige der Spieler noch zur Grundschule und träumten davon, Profi zu werden. Sie schauen alle zu ihm auf und wollen ihm mit einem erfolgreichen Turnier das beste Abschlussgeschenk machen. Es wird für uns als gesamtes Team ein emotionaler Abschied, der aber genau zum richtigen Zeitpunkt kommt. Unser Fokus liegt nun vollkommen auf den sehr intensiven nächsten Tagen und Wochen.

DFB.de: Und wenn Sie den Blick schweifen lassen? Was kommt nach der EM?

Bierhoff: Dann freuen wir uns auf einen Neustart mit einem vertrauten Gesicht. Ich hatte gute, zielgerichtete Gespräche mit Hansi Flick. Von Anfang an war er unser Wunschkandidat. Und trotz einiger Unkenrufe war für ihn der DFB die erste Wahl, weil er weiß, was er an uns hat und dass er auch auf mich persönlich zählen kann. Wir sind stolz, dass wir Hansi Flick nun als unseren neuen Bundestrainer gewinnen konnten. Er ist einer der besten Trainer weltweit und kann diese Mannschaft voranbringen und vor allem führen. Er wird die Mannschaft nicht neu erfinden, aber er wird vieles anders machen. Wir sind davon überzeugt, dass wir mit ihm einen großen Schritt an die Weltspitze schaffen können.