Trends
Durchgreifende Trends sind nicht immer durch die isolierte Analyse eines Turniers zu fixieren. Stabile Qualitätsstandards sind erst über längere Zeitabschnitte und über diverse internationale Turniere hinweg beobachtbar. Diese Qualitätsmerkmale lassen sich dann aber als konstante Anforderungsprofile von Teams und Spielern formulieren. Die Auswertung der FIFA-Weltmeisterschaft 2022 beginnt vor diesem Hintergrund auch nicht mit dem ersten WM-Spiel bei Null, sondern sie baut auf vormaligen Turnier-Analysen auf. Sie vergleicht analysierte Fakten der letzten Turniere mit aktuellen Auswertungen, weil nur auf diesem Weg eine verlässliche Prognose des Zukünftigen möglich ist.
- Wohin bewegt sich der internationale Fußball?
- Welche Spielauffassungen haben andere Nationen?
- Welche Qualitätsmerkmale weisen die weltbesten Teams auf?
- Welche Qualitätsdimensionen greifen dabei Tendenzen vorheriger Turniere auf – wo sind Akzentverschiebungen zu erkennen?
- Lassen sich daraus Prognosen für die Zukunft ableiten?
QUALITÄTSDIMENSION „BALANCE“
Einerseits beeindruckten die Top-Mannschaften der FIFA-Weltmeisterschaft 2022 durch originäre Team-Profile. Gleichzeitig lassen sie sich dennoch nicht auf ein typisches dominierendes Qualitäts- und Erfolgsmerkmal reduzieren. Sie überzeugen nicht alleine durch eine disziplinierte und kompakte Defensivarbeit, nicht alleine durch überragende individuelle Klasse, nicht ausschließlich durch atemberaubende Tempo- oder Umschaltaktionen.
Stattdessen ist der Erfolgsschlüssel eine perfekte Mischung, die Balance zwischen einer Defensivorganisation im hinteren Bereich, der nötigen Spiel(er)stärke und Kreativität im Mittelfeld sowie individueller Klasse ganz vorne.
Bei der FIFA-Weltmeisterschaft 2022 war eine kompakte, organisierte Defensivstruktur die Erfolgsbasis – ausgerichtet auf Stabilität und Kompaktheit!
Spezielle Qualitätsmerkmale in der Defensive waren ein Pressing aus einer meist tief gestaffelten Formation, eine konsequente Sicherung des Zentrums, variable und gegnerorientierte Anpassungen sowie klare Rollen und Funktionen im Team!
Die Top-Teams der WM 2022 stellten gleichzeitig eine Balance zu einem hocheffizienten Angriffsspiel her, das vor allem durch herausragende Unterschiedsspieler und Spielentscheider bestimmt war!
Spielaufbau des Gegners: In der ersten Phase nimmt Argentinien eine relativ tiefe Positionierung in einer flexibel angepassten Fünferkette ein. Die vorderen beiden Angreifer üben wenig Druck aus, sodass der Gegner bereits einen Pass zum Außenverteidiger (AV) spielen konnte. Mit diesem Pass steigert Argentinien den Druck. Mac Allister läuft den AV an, der daraufhin einen Doppelpass mit dem zentral-defensiven Mittelfeldspieler (ZDM) spielt, der von Álvarez unter Druck gesetzt wird.
Argentinien hält die defensive "Dynamik", die durch den initialen Diagonalpass zum AV ausgelöst wurde, weiterhin hoch. Der ZDM im Zentrum, der den Pass vom AV erhält, wird von de Paul umgehend angelaufen.
Daraufhin passt der ZDM zurück zum Innenverteidiger (IV), der den Pass zum Stürmer (ST) in die Tiefe sucht. Dieser wird bei der Annahme bereits von Romero unter Druck gesetzt und eng verfolgt.
Der ST dribbelt quer zur Spielrichtung und passt zum zentralen offensiven Mittelfeldspieler (ZOM), der in der Halbspur anspielbar ist. Otamendi antizipiert den Pass frühzeitig und rückt mit dem Pass an den ZOM heran.
Dem ZOM gelingt es jedoch, vor dem direkten Duell mit Otamendi einen Pass zum in die Tiefe laufenden ST zu spielen.
Der ST erläuft das Zuspiel, steht jedoch sofort unter Druck der nahen argentinischen Verteidiger. Zusätzlich sprintet Otamendi nach seiner Aktion umgehend zurück und übt so Druck von hinten aus.
Unter Druck von drei Gegenspielern passt der ST nach außen zum freistehenden Außenverteidiger (AV), der mit dem Pass ebenfalls sofort unter Druck gerät.
Der AV kappt ab und passt zurück zum ZOM, woraufhin Mac Allister aus dem Zentrum zur Hilfe eilt und Druck auf den Ballführenden ausübt. Der ZOM sucht daraufhin die Flucht nach vorne und dribbelt in Richtung Strafraum.
Da jedoch kein Durchbruch nach innen gelingt, schlägt der ZOM einen Flanke in den Strafraum. Dort haben die argentinischen Verteidiger bereits eine gute Position eingenommen und den Kontakt mit den gegnerischen Angreifern gesucht, sodass sie die Hereingabe problemlos sichern können. Die Basis für die Balleroberung: Konsequenter, permanenter, körperbetonter und hochengagierter Defensiv-Druck bis zum Ende!
Aufbau England: Der gegnerische Innenverteidiger (IV) passt zum zentralen Mittelfeldspieler (ZM). Frankreich verteidigt vermeintlich in einem 4-1-4-1, doch Mbappe, der nominell als linker Außenstürmer agiert, ist letztlich von defensiven Aufgaben befreit und ordnet sich nur "lose" in die Ordnung ein.
Stattdessen übernimmt Rabiot aus dem Zentrum heraus das Verteidigen der linken Seite und agiert als Unterstützer für Hernandéz. Da der ZM sich jedoch für ein diagonales Dribbling in die Zentrumspur und einem Pass zum zentral-offensiven Mittelfeldspieler (ZOM) entscheidet, ist in diesem Moment ein Herausrücken nach außen nicht nötig.
Auf der anderen Seiten übernimmt Dembélé die Rolle des Unterstützers für Außenverteidiger Koundé, er verteidigt konsequent vor ihm. So auch in dieser Situation: Der ZOM passt zum Außenverteidiger (AV), woraufhin Dembéle den Passempfänger unter Druck setzt. Der AV passt zurück und über eine Zwischenstation landet der Ball beim zentralen Mittelfeldspieler (ZM).
Mit dem Pass zum ZM schiebt Giroud nach vorne, wodurch das Zentrum von Frankreich inklusive Rabiot verschieben muss. Daraufhin lässt sich Griezmann zurückfallen und füllt die Lücke, stabilisiert so das Zentrum. Nach einer Passabfolge passt der ZM zum linken Innenverteidiger (IV).
Der IV nutzt den Freiraum und passt zum zentral-defensiven Mittelfeldspieler (ZDM) in die Tiefe, der umgehend von Griezmann unter Druck gesetzt wird. Der ZDM kann diesen jedoch ins Leere laufen lassen und sich mit einem Tempodribbling nach vorne lösen. Kurz vor einem direkten Duell verlagert der ZDM auf den Außenverteidiger (AV).
Mit dem Pass rückt Hernandéz nach außen und setzt den dribbelnden AV unter Druck. Gleichzeitig startet der gegnerische Außenstürmer (AS) einen diagonalen Lauf in die Tiefe, den Upamecano umgehend aufnimmt.
Der AV passt zum AS und läuft in den Strafraum. Dessen Laufweg nimmt Rabiot auf, wohingegen Hernandéz dem Pass folgt. Der AS verarbeitet den Pass unter höchstem Druck von Upamecano.
Upamecano erobert den Ball, nutzt die Vorwärtsbewegung für ein Tempodribbling und passt zu Mbappé, der im Anschluß einen Angriff initiiert. Und genau das ist die Funktion der Defensivstruktur: Mbappé von defensiven Aufgaben befreien, damit dieser seine einzigartigen Qualitäten entfalten und so das Spiel entscheiden kann!
QUALITÄTSDIMENSION „DOMINANZ“
Nicht immer läuft alles nach „Matchplan“ – selbst bei den weltbesten Mannschaften nicht. So mussten alle Halbfinalisten im Turnierverlauf einige knifflige Turnier- und Spielphasen durchlaufen. Hier sei nur an die Auftakt-Niederlage des späteren Weltmeisters gegen Saudi-Arabien erinnert. Dennoch waren alle Top-Teams jederzeit von der eigenen Stärke überzeugt. Diese Selbstsicherheit und Souveränität setzte immer herausragende individuelle, positionsspezifische Qualitäten voraus. Gleichzeitig war eine totale Identifikation mit Zielen und Aufgaben des Teams zu spüren. Das alles ermöglichte eine Stärke, die Spielkontrolle nicht zu verlieren bzw. zurückzugewinnen, letztlich zu dominieren und das Spiel zu gewinnen.
„Indirekte Dominanz“ – Die weltbesten Teams sind nicht permanent aktiv auf schnelle Balleroberungen und Angreifen fixiert – sie kontrollieren dennoch jederzeit Gegner und Spiel!
Die Top-Mannschaften der WM 2022 haben alle ein unverwechselbares Spiel- und Erfolgskonzept, das sie überzeugt, souverän und selbstsicher auch in Druckphasen durchbringen!
Diese Spielkonzeptionen integrieren einerseits die individuelle Klasse einzigartiger Unterschiedsspieler und basieren andererseits auf klaren Prinzipien, jederzeit das Spiel aktiv zu bestimmen und situativ effiziente Torangriffe zu forcieren!
Maguire passt zu Mount, der zwischen der gegnerischen Abwehr- und Mittelfeldlinie anspielbar ist.
Mount legt direkt auf Sterling ab, der mit seinem Dribbling die Dynamik in der 3-gegen-2-Überzahlsituation erhöht.
Durch das abgestimmte Zusammenwirken können sie die Überzahl nutzen und Shaw in der Außenspur frei spielen, den Sterling mit seinem Pass in Szene setzt. Mit dem Pass rückt Bellingham, der ohne Gegnerdruck ist, in den Strafraum nach.
Shaw flankt mit dem ersten Kontakt in den Strafraum, wo Bellingham ungestört in den anvisierten Zielraum einlaufen und die Hereingabe erfolgreich verwerten kann.
Frankreich agiert gegen ein kompakt formierten Gegner aus einer sauberen Raumaufteilung heraus. Dadurch haben sie die Möglichkeit, sich den Gegner im abgestimmten Zusammenwirken und mit Geduld zurechtzulegen. So passt Rabiot zu Upamecano, der mit einem sauberen Pass den in der Außenspur freistehenden Hernandéz in Szene setzt.
Mit der Annahme von Hernandéz startet Mbappé einen Lauf in die Tiefe, wodurch die Situation sofort an Dynamik gewinnt. Hernandéz erkennt Mbappés Laufweg frühzeitig und passt in dessen Lauf.
Mbappé erläuft das Zuspiel und schließt mit dem ersten Kontakt ab. Der Torschuss verfehlt jedoch das Tor und der Ball rollt entlang der Grundlinie. Dembélé nimmt den 'losen' Ball auf, ...
... und sucht umgehend das direkte Duell mit dem Außenverteidiger (AV). Gleichzeitig bringt sich Mbappé für eine weitere Aktion in Stellung.
Dembélé verschafft sich im 1 gegen 1 ein kleines Zeitfenster, das er für eine Hereingabe in den Strafraum nutzt. Mbappé, der bereits darauf vorbereitet ist, verwertet die Flanke mit einem Kopfball in die ballferne Ecke.
WEITERE KEYPOINTS DER FIFA-WELTMEISTERSCHAFT 2022
Individuelle Profile
Klare Rollen-Definition: „Defensive“ primär auf die Defensiv-Rolle fokussiert, z.B. klares Profil eines von der Defensive her denkenden und agierenden zentralen Mittelfeldspielers (6er)
Defensive
Probleme vieler WM-Teams beim Verteidigen in der Box: zu starke Orientierung zum Ball, zu viel Raumverteidigung anstelle einer klaren Gegner-Zuteilung
- Antizipierendes, „lauerndes“ Abwarten auf Situationen für Ballgewinne – dann konsequentes, intensives Agieren
- Risikominimierung gegenüber Kontersituationen: funktionierende Restverteidigung ist ein zentraler Erfolgsschlüssel
- Zustellen der Torhüterabstöße ja – Angriffspressing nur sporadisch
Offensive
Mit Laufwegen unterschiedliche Ebenen herstellen + Positionsbesetzung + Abschlussqualitäten = erfolgreiches Angriffsspiel
- Verstärktes Vorbereiten der Abschlüsse in der „Golden Zone“ über die Außenpositionen: 58 Prozent der Chancen wurden über außen eingeleitet und die über die Flügel vorbereiteten Treffer steigerten sich gegenüber der Vor-WM um 83 Prozent
- 94 Prozent der Tore wurden im Strafraum und ca. 78 Prozent in der Golden Zone erzielt
Sonstige (statistische) Auffälligkeiten
- Bevorzugtes System: 4 – 3 – 3 (mit doppelt besetzten Seiten)
- Weniger Tore nach Standards: geringere Torquote bei Standardsituationen (primär Eckstöße, Freistöße) – nur 50 Treffer resultierten aus Standards (29,1%). Das ist eine drastische Verringerung im Vergleich zur WM 2018 in Russland, bei der noch 45% der Tore durch Standards erzielt wurden (76 von 169)
- Die Zahl der Torschüsse pro Partie reduzierte sich weiter markant. Bei der WM 2010 in Südafrika lag der Wert noch bei 14,1 Schüssen pro Spiel. Über 12,9 und 12,0 bei den anschließenden Turnieren ist er nun bei 10,9 angekommen
- Durchschnittlich 2,63 Treffer pro WM-Begegnung basieren auf einer verbesserten Verwertung (30,7%) von nur 556 herausgespielten Torchancen bei diesem WM-Turnier. Bei der Vor-WM 2018 waren es noch 721 herausgespielte Torchancen
- Starke Einflüsse durch situatives und konsequentes Trainer-Coaching, u.a. ein proaktives Ausschöpfen des erweiterten Auswechselkontingents (z.B. WM-Finale: zwei Auswechslungen von Dechamps in der 40. Minute)
Mentalität
- Extreme Identifikation vieler WM-Teams mit ihrer Nation
Größere Leistungsdichte im internationalen Fußball
- Erstmals seit 1994 konnte keine WM-Mannschaft alle drei Vorrunden-Spiele gewinnen - allerdings schickten die bereits für das Achtelfinale qualifizierten Nationen Frankreich und Brasilien für das letzte Gruppenspiel stark durchrotierte Teams auf das Feld
- 2010 waren letztmals alle fünf Kontinentalverbände in der „Do-or-die“-Phase vertreten
- Mit Südkorea, Japan und Australien erreichten in Katar erstmals gleich drei Teams aus dem asiatischen Kontinental-Verband (AFC) die K.o.-Runde
Newsletter
Für die Akademie-Post anmelden und auf dem Laufenden bleiben!