Spielanalyse

Technik als Grundstein für erfolgreiche Aktionen

Torhüterinnen benötigen eine individuelle Werkzeugkiste, die ihnen hilft, sämtliche Situationen effektiv zu meistern.

DFB-Nationaltorhüterin Merle Frohms rettet gegen Österreichs Sarah Puntigam während der UEFA-Frauen-Europameisterschaft.

Das Verhindern von Gegentoren in der Zielverteidigung ist noch immer ein zentraler Bestandteil des Torwartspiels. In diesem Bereich der UEFA Women's EURO 2022 wurden Erkenntnisse herausgearbeitet, wie Spitzentorhüterinnen situativ ihre Techniken anwenden und mit taktischen Verhaltensweisen verbinden, um gegnerische Torabschlüsse abzuwehren.

Torhüterinnen müssen Technikerinnen sein

Die Basistechniken einer Torhüterin sind entscheidend für den Erfolg ihrer Aktionen auf dem Platz. Die EM hat gezeigt, dass Torhüterinnen ohne eine solide technische Grundlage Schwierigkeiten haben, die Defensivarbeit der Mannschaft zu unterstützen und Tore zu verhindern.

So umfasst beispielsweise die Zielverteidigung im Torwartspiel eine Vielzahl an Fähigkeiten und Techniken, die von einer guten Torhüterin beherrscht werden sollten. Der körpernahe Bereich kann von einer Torhüterin durch „zuckende Körperteile“ oder im Rahmen ihrer Körperfläche verteidigt werden. Dabei sind Techniken wie die Fuß- und Handabwehr oder kurze bzw. lang durchgeschobene Blöcke im direkten Duell mit den Angreiferinnen gefragt. Dagegen spielen im körperfernen Bereich das Abkippen und das Abdrücken eine wichtige Rolle. Dieser Bereich kann von der Torhüterin nur verteidigt werden, wenn sie ihren gesamten Körperschwerpunkt beschleunigt und eine Technik nahezu vollständig ausführt.

Neben dem Beherrschen dieser Basics ist eine passende Technikauswahl im jeweiligen Schussmoment entscheidend für eine erfolgreiche Zielverteidigung. Die Grundlage dafür bilden die optimale Position und Distanz sowie das Stehen in Balance im Moment des Torschusses.

Aktionszonen der Torhüterin aus Sicht der Spielerin
    • Körperfläche:
      Die Fläche, die die Torhüterin durch ihren Körper abdeckt.

    • Körpernaher Bereich:
      Der Bereich, den die Torhüterin durch "zuckende Körperteile" (Tauchen sowie Hand- und Fußabwehr) verteidigen kann. 

    • Körperferner Bereich:
      Der Bereich, den die Torhüterin nur verteidigen kann, wenn sie ihren gesamten Körperschwerpunkt beschleunigt und eine Technik nahezu vollständig ausführt (z. B. beim Abkippen und Abdrücken etc.).

    • Bonus:
      Der Bereich, den die Torhüterin je nach Distanz und Schärfe des Abschlusses nur mit einer vollständigen und dynamischen Technikausführung verteidigen kann. Umgangssprachlich wird bei diesem Bereich häufig von „unhaltbaren Bällen“ gesprochen.

    • Fangen zentral
    • Korb
    • Tauchen (Entlasten des ballnahen Beines)
    • Fuß- und Handabwehr
    • Im 1-gegen-TH: Ballangriff oder kurzer Block / langer durchgeschobener Block

    Die EURO hat gezeigt, dass neben der Technikauswahl die Positionierung eine zentrale Rolle spielt:

    • Distanz (Präzisions- und Abschlussdruck)
    • Winkelhalbierende
       

    • Abkippen (Flach / Halbhoch)
    • Abdruck (Flach / Halbhoch / Hoch / Hoch mit Übergreifen)
Reaktions- vs. Blockdistanz

Im Torwartspiel kommt es oft auf Entscheidungen und Reaktionen in Sekundenbruchteilen an. Ein wichtiges Hilfsmittel für die Torhüterin ist dabei die Wahl der Distanz zur Schützin, um schnell und adäquat auf die Aktion der gegnerischen Spielerin reagieren zu können. Im Torwartspiel sprechen wir über Reaktions- und Blockdistanz, die sich jeweils durch den Abstand der Schützin zur Torhüterin unterscheiden.

Ein bewusstes Positionieren der Torhüterin in der Reaktionsdistanz, ermöglicht ihr ein maximal großes Zeitfenster, um auf den Schuss der Gegnerin zu reagieren. Dabei bezieht sich die Reaktionsdistanz auf den Abstand zwischen der Torhüterin und der ballführenden Angreiferin. Je mehr sich die Angreiferin der Torhüterin nähert, desto kürzer ist die Reaktionsdistanz und somit ist die Reaktionszeit geringer.

Ein Vorrücken in die Blockdistanz ermöglicht der Torhüterin Schüsse aus einer kurzen Distanz mit ihrer Körperfläche zu blocken. Erkennt die Torhüterin ein Zeitfenster, um in die Blockdistanz zu schieben, sollte sie sich möglichst schnell auf die Schützin zu bewegen. Beim Blocken ist es wichtig, dass sich die Torhüterin 'groß' macht, um durch die Position ihrer Hände und Arme eine maximal große und geschlossene Trefferfläche (Blockdichte) zu bieten, mit der sie den Schuss abblocken kann. Die Blockdistanz kann je nach Situation variieren und erfordert eine schnelle und mutige Entscheidung der Torhüterin.

    1. Hegering sucht den Rückpass zu Frohms, die sich bereits für ein Anspiel in Position bringt. Der Pass gerät jedoch zu kurz, was die Stürmerin (ST) im Rücken von Oberdorf frühzeitig erkennt und dem Ball entgegenstartet.

    2. Frohms erkennt die Situation, schaltet auf Zielverteidigung um und passt schnell ihre Position an, in dem sie sich nach hinten absetzt. Zeitgleich liefern sich die gegnerische ST und Oberdorf weiterhin ein Laufduell um den Ball.

    3. Ohne das Laufduell um den Ball aus dem Auge zu verlieren, orientiert sich Frohms mit einem schnellen Schulterblick am ballnahen Pfosten ihres Tores. Der Pfosten bietet ihr in dieser Situation einen Bezugspunkt, um im Verlauf der Positionsanpassung eine gute Endposition einzunehmen.

    4. Mit der Ballmitnahme der ST, die das Laufduell für sich entscheiden konnte, hat Frohms ihre optimale Position zum Ball gefunden und ist jederzeit bereit, auf Änderungen der Situation reagieren zu können. Oberdorf bleibt im Duell, ...

    5. ... hält die innere Linie und drängt die ST vom Tor weg. Frohms verfolgt die Situation und passt ihre Position fortlaufend an.

    6. Im Moment des Torschusses hat Frohms eine gute Position eingenommen. Dabei positioniert sie sich etwas über dem 1. Pfosten in Reaktionsdistanz. Durch ihr kontrolliertes Positionsmanagement und den Abstand zur Schützin ist sie in der Lage, auf den Torschuss zu reagieren und kann diesen aktiv mit ihrem Körper abwehren.

    1. Die zentrale Mittelfeldspielerin (ZM) dribbelt zielstrebig auf die Abwehr zu und versucht mit den in die tiefe startenden Stürmerinnen (ST) die Überzahlsituation auszuspielen. Die Torhüterin (TH) nimmt wahr, dass die ZM auch schießen könnte (kein Druck auf die Ballführerin – direkte Torgefahr) und setzt sich nach hinten ab.

    2. Die ZM erkennt den Laufweg der Mitspielerin und passt im richtigen Moment in die Tiefe. Die TH passt daraufhin ihre Position in Richtung der Winkelhalbierenden an und nimmt dort ihre Grundstellung ein.

    3. Die ST nimmt den Ball zum Tor mit und schließt ab. Im Moment des Torschusses steht die TH in einer guten Distanz zur Schützin und ist in Grundstellung. Diese Distanz ermöglicht ihr ausreichend Reaktionszeit, um auf den Schuss reagieren zu können. Zusätzlich hilft der TH, dass das virtuelle Tor aufgrund des Abschlussortes relativ klein ist.

    4. Durch eine kontrollierte Positionierung und die Überzeugung auf den Schuss reagieren zu können, ist die Torhüterin in der Lage, durch ihr Tauchen den Torschuss aktiv zu verteidigen und an den Pfosten zu lenken. Die nachrückende Angreiferin konnte den Abpraller zwar noch verwerten, doch die Schiedsrichterin hat bereits auf Abseits entschieden.

    1. Nach einem Dribbling in den Strafraum kann die linke Außenstürmerin (AS) zur nachrückenden zentral-offensiven Mittelfeldspielerin (ZOM) passen. Die Torhüterin (TH) passt ihre Position frühzeitig an und nimmt ihre Grundstellung ein.

    2. Da die ZOM den Ball mit einem weiten Kontakt annimmt, hat die TH die Möglichkeit nach vorne zu rücken, um die Distanz zur Angreiferin zu verkürzen und in Blockdistanz zu kommen.

    3. Die TH schiebt mit dem Torschuss der ST in den Block, sodass sie den geschossenen Ball mit ihrem Körper nach außen abwehren kann. Die Situation bleibt gefährlich, somit passt die TH umgehend ihre Position an. Die gegnerische zentrale defensive Mittelfeldspielerin (ZDM) sprintet zum Ball ...

    4. ... und passt direkt zur ZOM, die erneut anspielbar ist.

    5. Kurz vor dem zweiten Torschuss hat die TH durch schnelle Schritte eine gute Position eingenommen und ist zurück in Balance. Im Schussmoment macht sie sich erneut groß und versucht, mit ihrem Block eine maximale Trefferfläche zu bieten, wodurch sie in der Lage ist, den Torschuss mit ihrem Körper zu blocken.

    1. Die Außenstürmerin (AS) dribbelt im höchsten Tempo in Richtung Strafraum. Frohms hat eine abwartende Position eingenommen, aus der sie sowohl vorrücken als auch zurückweichen könnte, und ist in ihrer Grundstellung.
       

    2. Kurz vor dem Strafraum nimmt die AS einen weiten Kontakt, wodurch der Ball etwas verspringt. Frohms erkennt die Situation und verkürzt die Distanz zur Angreiferin.

    3. Als die AS den Ball wieder unter Kontrolle hat, hat Frohms erneut ihre Grundstellung eingenommen, wartet geduldig und übt so Präzisionsdruck auf die Angreiferin aus.

    4. Durch die bewusste Positionierung und die Überzeugung den Schuss blocken zu können, ist Frohms in der Lage, den Torschuss der AS aktiv mit einer langen „durchgeschobenen“ Blockabwehr zu verteidigen.

Erkenntnisse für die Ausbildung 
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Entscheidungen für Abschlussdruck oder Präzisionsdruck trainieren:

  • Kommt die Verteidigerin nicht nah genug an die gegnerische Stürmerin heran und die Torhüterin schafft es in die Blockdistanz vorzurücken, sollte die Torhüterin diese Chance nutzen, um aktiv Abschlussdruck auf die Stürmerin auszuüben.

  • Ist eine Verteidigerin an der gegnerischen Stürmerin dran, kann die Torhüterin die Stürmerin durch ein geduldiges Abwarten in Reaktionsdistanz zu einem möglichst präzisen Abschluss zwingen und so Präzisionsdruck auf die Stürmerin ausüben.

  • Steht die Torhüterin durch den Verlauf der Spielsituation zwischen der Block- und der Reaktionsdistanz, also in der Red Zone („Niemandsland“), dann bietet sich im Zweifel eine aktive Notlösung, um zum Beispiel durch eine Hand- oder Fußreaktion mit möglichst geschlossener Körpermitte an.

Relevanz des Abdrucks

Bei der EURO 2022 fielen 45 Treffer der 95 Tore (48%) in den körperfernen Bereichen, zudem sind rund 22% aller Turniertreffer im oberen Drittel des Tores erzielt worden. Daraus lässt sich u. a. ableiten, dass der Abdruck eine entscheidende Technik in der Werkzeugkiste einer Torhüterin ist. Diese Technik erfordert ein hohes Maß an Koordination, Schnelligkeit und Kraft, um sie effektiv auszuführen.

    1. Nach einem Ballgewinn passt die zentrale defensive Mittelfeldspielerin (ZDM) zur zentral-offensiven Mittelfeldspielerin (ZOM), die den Ball umgehend in den sich vor ihr bietenden Raum mitnimmt ...

    2. ... und mit ihrem Dribbling die äußere Verteidigerin bindet. Die Torhüterin (TH) passt bereits ihre Position an und setzt sich nach hinten ab. Weil die beiden direkten Gegenspielerinnen der ZOM zurückweichen und passiv bleiben, ...

    3. ... nutzt sie den Freiraum und schließt ab. Obwohl die TH auf den Torschuss in der Zielverteidigung vorbereitet ist und in einen guten Abdruck kommt, kann sie den Torschuss nicht parieren.

    4. Aus der Hintertorkamera ist der folgenschwere Fehler ersichtlich: Die TH schafft es mit ihrer Positionsanpassung nicht, die optimale Position auf der Winkelhalbierenden (WKH) für die anschließende Zielverteidigungsaktion einzunehmen. So ist der Weg auf ihre rechte Seite weiter, als er sein müsste und sie kann den Ball nicht abwehren.

    1. Nach einem Zweikampf sammelt die zentrale defensive Mittelfeldspielerin (ZDM) den 'freien' Ball auf und geht ins Dribbling über. Mit der An- und Mitnahme wird sie bereits von der Außenverteidigerin (AV) unter Druck gesetzt, während die Torhüterin (TH) ihre Position anpasst.

    2. Die ZDM nutzt ihre Dynamik und sucht das direkte Duell mit der AV.

    3. Dabei schlägt sie einen Haken nach innen und verschafft sich dadurch einen entscheidenden Vorteil gegenüber der Verteidigerin. Die TH beobachtet die Situation, erkennt die entstandene direkte Torgefahr und passt ihre Position nach hinten an.

    4. Die ZDM nutzt den freien Raum für eine sofortige Anschlussaktion und schließt aus der Ferndistanz ab. Im Schussmoment (Standbein der Angreiferin setzt) steht die TH in ihrer Grundstellung auf der Winkelhalbierenden und in angemessener Distanz zur Schützin, wodurch sie jederzeit auf den Ball reagieren kann.

    5. Das Positionsmanagement der TH ist die Basis für diese erfolgreiche Zielverteidigungsaktion. Der absolute Wille das Tor zu verteidigen und die Dynamik in ihrem Abdruck veredeln ihr gutes Positionsmanagement und ermöglichen diesen Big Save nach 12 Minuten beim Stand von 0:0.

Erkenntnisse für die Ausbildung 
  • Fokus auf Treffen der Winkelhalbierenden, damit der Weg zu beiden Seiten gleich weit ist (siehe Abbildung 4 im Accordion „Guter Abdruck – aber Winkelhalbierende nicht getroffen“).
  • Die Torhüterin muss lernen, sich dynamisch abzudrücken, um zügig zu scharfen und platzierten Schüssen agieren zu können.