Spielanalyse

Aktiv Raum und Zeit gewinnen

Die DFB- Leitlinie „Mit und ohne Ball Gegner binden, anspielbar sein oder Zugriff auf den Gegner haben!“ und den Ball unter Raum-, Zeit- und Gegnerdruck zielgerichtet zu bewegen, ist einer der entscheidenden Faktoren im erfolgreichen Offensivspiel.

Leroy Sané ist zu sehen wie er im Dress der deutschen Nationalmannschaft einen Zweikampf gegen zwei Gegenspieler führt. Er bleibt dabei im Ballbesitz.
  1. Dr. Stephan Nopp

    Dr. Stephan Nopp, Spielanalyst der A-Nationalmannschaft, analysiert mit Hilfe der Leitlinien der DFB-Spielauffassung diverse Qualitätsmerkmale im internationalen Fußball. Dabei stellt er stets einen praxisorientierten Bezug für alle Trainer her – egal in welcher Spiel- und Altersklasse.

Auch wenn hin und wieder Spiele durch individuelle Einzelleistungen entschieden werden, ist Fußball ein Mannschaftssport. Im besten Fall bedeutet das, dass jeder Spieler auf dem Platz zu jeder Zeit (s)eine Aufgabe wahrnimmt. Das gilt sowohl für die Defensive als auch für die Offensive, die beide in der Spielauffassung des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) berücksichtigt werden.

Der Fußball ist in den vergangenen Jahren immer körperbetonter geworden. Die Spieler scheinen aktuell nahezu austrainiert zu sein, insbesondere im Bereich der physischen Schnelligkeit. Dadurch ist es ihnen defensiv möglich, freie Räume schnell zu schließen und so Druck auf Passgeber und -empfänger aufzubauen. Für die Offensive bleibt somit weniger Zeit, die Situation richtig wahrzunehmen und eine gemeinsame Entscheidung zu treffen. Hinzu kommt die höhere Komplexität in der Umsetzung der Aktionen mit Ball. Den Ball unter Raum-, Zeit- und Gegnerdruck zielgerichtet zu bewegen, ist einer der entscheidenden Faktoren im erfolgreichen Offensivspiel.

Technische Fertigkeiten als Basis

Exzellente technische Fertigkeiten sind eine hervorragende Basis, um den Anforderungen gerecht zu werden. Fortschritte bei der Ausführung von An-/Mitnahme, Dribbling, Passspiel, Flanken und Schüssen zu erzielen, ist aber eher ein langfristig angelegtes Ziel. Doch was kann kurzfristig dazu beitragen, Raum und damit Zeit für die motorische Umsetzung der Aktionen mit Ball zu gewinnen? Der Gegner muss selbst vor schwierige Entscheidungen gestellt werden. Ihn in der Aktion langsamer zu machen und um Druck für die eigene Mannschaft zu reduzieren, heißt ihn gedanklich zu (über)fordern. Sobald eindeutig ist, welcher Verteidiger für welchen Angreifer verantwortlich ist, wird die Zeit für die Offensive knapp. Das Binden von Gegenspielern ist eine Möglichkeit, Entscheidungsfehler beim Gegner zu provozieren.

Auf der einen Seite kann das Binden und damit das Schaffen von Räumen dynamisch durch Laufwege geschehen, zum Beispiel, wenn Angreifer in einen freien Raum laufen und ihnen der Gegenspieler folgt. Der resultierende freie Raum kann dann effektiv bespielt werden und muss von der Verteidigung durch kompaktes Verschieben geschlossen werden. Lässt sich der Abwehrspieler durch den Laufweg in den freien Raum nicht binden, so entsteht anderswo defensiv eine personelle Unterzahl, die weitere Abwehrspieler in eine Zuständigkeitsproblematik bringt und zu einer Reaktion zwingt. Genau in diesem Moment kann der Passempfänger Zeit und Raum für die Anschlussaktion mit Ball gewinnen oder sogar die defensive Organisation des Gegners destabilisieren. Entweder im freigewordenen oder im personell überbesetzten Raum.

Verständnis des Ursache-Wirkungs-Prinzips

Auf der anderen Seite erfolgt das Binden von Gegenspielern schon durch eine stehende Positionierung des Angreifers im Raum. Dies ist seltener offensichtlich und zumeist unbewusst. Doch gerade hier liegt die Chance, Mitspielern die Möglichkeit der bestmöglichen Spielfortsetzung zu geben. Vergleichbar mit anderen Sportarten wie zum Beispiel Basketball oder American Football wird dieses Verhalten dort als "Block" bezeichnet. Abwehrspieler werden dadurch aktiv am Attackieren des Passempfängers gehindert.

Unabhängig, ob Gegenspieler dynamisch oder statisch gefordert werden, fördert das Verständnis vom Ursache-Wirkungs-Prinzip den Effekt des Bindens. Spielern ist oft nicht bewusst, dass sie durch ihr Verhalten dem Mitspieler helfen können, in dem sie Gegenspieler zu Reaktionen zwingen. In seiner ehemaligen Funktion als Leiter der Hennes-Weisweiler-Akademie formulierte der heutige Trainer des niederländischen Erstligisten Heracles Almelo, Frank Wormuth, dass es wohl das Schwierigste sei, Spielern beizubringen, in Laufwege zu investieren, bei denen sie nicht den Ball bekommen, sondern Raum für den Mitspieler kreieren. Je größer das Verständnis dafür vorhanden ist, desto größer sollte die Motivation für ein solches Verhalten und desto effektiver sollte das Kombinationsspiel sein.

Letztlich bleibt festzuhalten, dass durch das Binden des Gegners Zeit für Aktionen mit Ball gewonnen wird, denn der Prozess der gemeinsamen Entscheidungsfindung wird verlangsamt und zudem Fehler provoziert. Geht das Verständnis für das Binden dann noch einher mit einer motorisch zielgerichteten Ballaktion (Technik), wird es trotz hoher physischer Leistungsfähigkeit und stabiler Defensive möglich sein, Gegner kontrolliert und geplant zu überspielen sowie am Ende erfolgreich Tore zu erzielen.

Den Ball unter Raum-, Zeit- und Gegnerdruck zielgerichtet zu bewegen, ist einer der entscheidenden Faktoren im erfolgreichen Offensivspiel.
Dr. Stephan Nopp

Weitere Spielanalysen