Spielanalyse

Die Torwartkette - ein neues Angriffsmittel?

Immer mehr Teams setzen im Spielaufbau auf einen mitspielenden Torwart. Doch welche Chancen bietet dessen Einbindung und welche Risiken birgt es?

Ajax Amsterdams Andre Onana bei einem Abstoß © 2019  Catherine Ivill/Getty Images
  1. Marius Fischer

    Marius Fischer, Redakteur der DFB-Trainerzeitschrift „Fußballtraining“, analysiert Qualitätsmerkmale im internationalen Fußball.

Der moderne Torwart muss heutzutage mehr können, als nur Bälle halten. Immer häufiger wird er auch aktiv mit in den Spielaufbau eingebunden und dient so als zusätzlicher Überzahlspieler, der mit den Verteidigern eine Linie bildet. Dass der Torwart jedoch bis an den Mittelkreis aufrückt und dort als Anspieler fungiert, wird bisher noch eher selten praktiziert.

Formen der Torwartkette

Es gibt drei Formen der Torwartkette, die sich jeweils in ihrer Höhe unterscheiden. Von den meisten Teams wird die tiefe Torwartkette genutzt. Hier verbleibt der Torwart in seinem Strafraum und dient dort vor allem gegen hoch pressende Teams als Pendel- und Verlagerungsspieler. Bei der mittelhohen Variante bietet er sich außerhalb des Strafraums an und kann so für kurze Passdistanzen und schnelle Spielverlagerungen sorgen. Als hohe Torwartkette bezeichnet man die extremste Form dieses Angriffsmittels, die bisher zumeist dann zu beobachten ist, wenn sich eine Mannschaft in Rückstand oder in Überzahl befindet und der Gegner tief in der eigenen Häfte verteidigt. Hier steht der Torwart weit vor seinem eigenen Tor und dient als Anspielstation auf Höhe des Mittelkreises. Die Innenverteidiger und Außenverteidiger können breit und hoch schieben, wodurch man eine für den Gegner ungewohnte und unübersichtliche Situation herstellt.

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Den Gegner locken

Da der gegnerische Torwart keinen Spieler deckt, kann die angreifende Mannschaft durch ihren eigenen Torwart eine Überzahl herstellen. Wird dieser dann aktiv angelaufen, wird an anderer Stelle ein Mitspieler frei und es ergeben sich neue Räume im Rücken des anlaufenden Gegenspielers. Die Torwartkette eignet sich also sehr gut zum Locken und Überspielen eines Gegners. Da sich die eigenen Verteidiger breiter positionieren können und der Gegner entsprechend mitschieben muss, öffnen sich für den Torwart Passwege in die Zentrumsspur. Voraussetzung hierfür ist ein spielstarker Torwart, der auch unter Druck beidfüßig die freien Mitspieler präzise anspielen kann.

    1. De Bruyne spielt einen Rückpass auf Ederson, der von einem gegnerischen Stürmer angelaufen wird.

    2. Ederson spielt unter Druck einen scharfen Pass in die linke Halbspur ...

    3. ... auf Sterling, der den Ball im Spiel über den Dritten mit Gündoğan in die linke Außenspur auf Mendy verlagert.

    1. Ter Stegen dribbelt an und wird von einem gegnerischen Stürmer angelaufen. Der andere Stürmer schiebt nach außen in die Halbspur.

    2. Dadurch öffnet sich ein Passweg zu Messi, den Ter Stegen mit einem scharfen Pass anspielt.

    3. Durch die vielen überspielten Gegenspieler befindet sich Messi in einer 1-gegen-1-Situation und kann andribbeln.

Das gegnerische Pressing ermüden

Die angesprochene Überzahl erschwert es dem Gegner, effektiv pressen zu können. Wird der Torwart angelaufen, kann dieser mit einem Pass auf einen Mitspieler das Pressing auflösen und der Gegenspieler wird zu zusätzlichen Laufwegen gezwungen. Vor allem bei eigenen Führungen kann man den Gegner durch eine ständige Ballzirkulation zwischen Torwart und Verteidigung ermüden, da dieser in Rückstand liegend permanent neu anlaufen muss. Wenn die Intensität irgendwann nachlässt und der Gegner nicht mehr konsequent anläuft, kann man die nun offenen Räume gezielt andribbeln.

    1. Onana dribbelt an und wird im Bogen angelaufen.

    2. Durch das Anlaufen des gegnerischen Stürmers wird der Passweg zu Schuurs frei, der sich aus dem Deckungsschatten löst und angespielt wird.

    3. Schuurs kann andribbeln während der gegnerische Stürmer in vollem Tempo zurücksprinten muss.

Mut zum Risiko

Mit der mittelhohen und hohen Torwartkette geht ein gewisses Risiko einher. Aus einem Ballverlust des Torwarts weit vor seinem Tor resultiert zumeist eine große Chance für den Gegner. Die breiten Positionierungen der Mitspieler erschweren ein mögliches Gegenpressing bei einem Ballverlust zusätzlich. Nichtsdestotrotz gehört dieses Risiko zu einer effektiven Ausführung dieses taktischen Mittels dazu. Der Torwart muss sich zutrauen, selber anzudribbeln und den Gegner zum Anlaufen zu locken. Dient er lediglich als Verlagerungsspieler, ohne selber auch mal einen offenen Raum anzudribbeln, verliert die Torwartkette ihren Effekt und es besteht die Gefahr eines 'Ballgeschiebes' ohne Raumgewinn.

    1. Onana wird von einem Gegenspieler in vollem Tempo angelaufen und umdribbelt ihn mit einer Körpertäuschung.

    2. Durch Onanas hohe Positionierung konnten die anderen Mannschaftsteile breit und hoch schieben, sodass Onana einen Diagonalpass in die rechte freie Außenspur spielen kann.

Ausblick

Die Rolle des Torwarts wird im Spielaufbau immer wichtiger. Viele Mannschaften spielen ein aggressives und kompaktes Spiel gegen den Ball, das es der angreifenden Mannschaft immer schwerer macht, Chancen herauszuspielen. Die Torwartkette kann hierbei eine Lösungsmöglichkeit bieten, da sie durch die hohe Positionierung des Torwarts ganz neue Passwinkel ermöglicht und ein Vorschieben aller Mannschaftsteile erlaubt.

Es ist die Zukunft des Fußballs. Ich habe schon immer geglaubt, dass der Torwart sich mehr am Spiel beteiligen sollte.
Albert Capellas Herms, Trainer der U21 von Dänemark
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