Spielanalyse

Jules Koundé – der ungewöhnliche Innenverteidiger

Der junge Franzose gehört zu den überragenden Spielern des FC Sevilla. Was zeichnet ihn aus?

Sevillas Jules Koundé im Zweikampf mit Dortmunds Erling Haaland. ©2021 Getty Images
  1. Christopher Toetz

    Christopher Toetz, Redakteur der DFB-Trainerzeitschrift „Fußballtraining“, analysiert Qualitätsmerkmale im internationalen Fußball.

Im Sommer 2019 wechselte Jules Koundé für die Rekordablöse von 25 Millionen Euro zum FC Sevilla, obwohl er bis zu diesem Zeitpunkt erst anderthalb Jahre in der ersten Mannschaft von Girondins Bordeaux spielte. Doch die Investition zahlte sich aus, denn mittlerweile bildet Koundé zusammen mit Diego Carlos eines der stabilsten Innenverteidiger-Duos im europäischen Fußball. Das Duo ist einer der Gründe, weshalb der FC Sevilla mit bislang 21 Gegentoren die zweitwenigsten der Liga kassierte. Doch Koundés Qualitäten lassen sich nicht nur auf die sein Defensivverhalten beschränken, denn er verfügt auch im Ballbesitz über ebenso ausgeprägte Fertigkeiten.

Polyvalentes Profil

Koundé bringt Qualitäten mit, die jeder Trainer schätzt - er ist spielintelligent, kann sich schnell in verschiedene Positionen hineindenken, ist unheimlich vielseitig. In seiner Karriere agierte Koundé bereits auf allen Abwehrpositionen, doch letztlich etablierte er sich im Profibereich frühzeitig als Innenverteidiger. Hier kommt sein Profil am besten zur Geltung, denn der 22-Jährige ist beweglich, trotz seiner 1,78 Meter kopfballstark, überaus zweikampfstark, technisch stabil und passsicher.

Gegen den Ball

In der Defensive überzeugt Koundé durch seine Positionierung und Antizipation, wodurch es ihm oftmals gelingt, Pässe abzufangen oder im richtigen Moment auf ein aktives Abwehrverhalten umzuschalten. Hierbei wirkt seine Grundschnelligkeit unterstützend. Er verkörpert damit eindrucksvoll die übergeordnete DFB-Leitlinie „Wir antizipieren statt zu spekulieren!“. Doch auch in Situationen, in denen der Angreifer bereits in Ballbesitz ist, weiß er mit einer sauberen Zweikampfführung zu überzeugen. In 1-gegen-1-Situationen gelingt es ihm oftmals, den Gegner aus dem Zentrum zu lenken, dabei eng am Gegenspieler dranzubleiben, um im richtigen Moment zur Stelle zu sein. In den Duellen bleibt er stets fair und kommt meist ohne Verwarnung aus.

    1. Der gegnerische Innenverteidiger (IV) dribbelt ohne Gegnerdruck an. Koundé beobachtet die Situation und hat eine seitliche Stellung eingenommen. So hat er sowohl die Kontrolle über die Tiefe in seinem Rücken als auch Zugriff auf den Mittelstürmer (MS).

    2. Letztlich entscheidet sich der IV für einen Pass zum MS. Koundé erkennt die Absicht frühzeitig, sprintet dazwischen und erobert den Ball.

    3. Koundé nutzt die Dynamik des Ballgewinns und setzt das Spiel mit einem zielstrebigen Dribbling fort. Die ballnahen Mitspieler unterstützen mit Läufen in die Tiefe.

    4. Kurz bevor Koundé in ein direktes Duell gerät, passt er zu Ocampos. Anschließend hält Koundé das Tempo hoch und läuft in die Tiefe. Im weiteren Verlauf muss Ocampos den Konter jedoch abbrechen.

    1. Der gegnerische Innenverteidiger (IV) passt unter Druck zum zentralen offensiven Mittelfeldspieler (ZOM) in die Tiefe. Koundé bleibt eng am Passempfänger dran, ...

    2. ... sodass dieser sich nicht aufdrehen kann und zur Seite wegdribbelt. Koundé hält den Druck aufrecht, wobei er die passende Distanz hält.

    3. In dem Moment, wo der ZOM den Ball kurzzeitig "freigibt", schiebt Koundé an ihn heran, sucht den Körperkontakt und erobert den Ball. Koundé passt zu Jordán und läuft umgehend in die Tiefe. Jordán setzt das Spiel jedoch mit einem Dribbling auf die andere Seite fort.

    Variables Passspiel

    In der ersten Phase des Aufbauspiels nimmt Koundé eine prägende Rolle ein. Mit geschickten Freilaufbewegungen bietet er sich frühzeitig an, um das Spiel von hinten anzukurbeln. Dabei orientiert er sich stets vor und „scannt" seine Umgebung hinsichtlich Gegenspielern, Mitspielern und bespielbaren Räumen. Er beherrscht dabei den flachen Kurzpass ebenso wie die lange diagonale Verlagerung. Neben seiner geringen Anzahl an Fehlpässen, seiner sauberen Ballverteilung und seinen guten Fähigkeiten in der Ballbehauptung besticht Koundé durch seine Entscheidungsfindung.

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    "Box-to-Box"-Verhalten

    Ergibt sich die Möglichkeit, dribbelt Koundé mit viel Mut in die Halb- und Außenspuren – sei es zum Binden eines Gegenspielers oder zum Überwinden gegnerischer Linien. Gerade für seine linienbrechenden und teils spektakulären Dribblings ist er gefürchtet, weshalb er spätestens seit seinem Tor gegen den FC Barcelona – und aufgrund seiner Lockenfrisur – als "Maradona der Abwehr" bezeichnet wird. Rückt Koundé einmal auf, wirkt er sehr aggressiv und tororientiert. Dabei kann er auch unter Druck die Lücken des Gegners ausmachen und bespielen. Laut Statistik ist er einer der Abwehrspieler, der in der spanischen Liga mit die meisten Ballkontakte im gegnerischen Strafraum hat.

      1. Ballbesitzer Koundé deutet einen Pass nach außen an und löst damit das gegnerische Pressing auf der ballnahen Seite aus. Koundé nimmt die Situation wahr, kappt ab, ...

      2. ... , passt zu Jordán ins Zentrum und läuft in die Tiefe. Daraufhin passt Jordán zu Koundé in den Lauf, der das Spiel mit einem Dribbling fortsetzt.

      3. Anschließend sucht Koundé das direkte Duell mit dem herausgerückten Innenverteidiger (IV), den er problemlos umdribbelt.

      4. Koundé erhöht das Tempo, dribbelt den nächsten IV an und bindet diesen. Gleichzeitig setzt sich En-Nesyri zur Mitte ab und fordert ein Zuspiel in die Tiefe.

      5. Koundé nimmt die Situation wahr und passt in den Rücken der gegnerischen Abwehr. En-Nesyri erläuft das Zuspiel und schließt mit dem ersten Kontakt ab. Der Schuss wird jedoch vom Torwart (TW) pariert.

      1. Der zentrale offensive Mittelfeldspieler (ZOM) dribbelt im hohen Tempo Richtung Tor. Koundé und seine Mitspieler setzen sich nach hinten ab und versuchen, den Angriff zu verlangsamen. Rakitić holt den zentralen offensiven Mittelfeldspieler ein, sucht den Zweikampf und erobert den Ball.

      2. Koundé erläuft den Ball, kappt mit dem ersten Kontakt am ballnahen Mittelstürmer (MS) vorbei und dribbelt ins Zentrum. Dort wird er vom nächsten MS unter Druck gesetzt.

      3. Koundé nutzt die Dynamik der Situation und umspielt den heraneilenden MS mit einer Roulette-Drehung (360°-Drehung).

      4. Anschließend gerät Koundé in einen Zweikampf mit dem ZOM, den er mit einer Abkappbewegung ebenfalls stehen lässt.

      5. In der nächsten Aktion ist jedoch der zentrale defensive Mittelfeldspieler (ZDM) früh zur Stelle, sodass Koundé den Ball zu Fernando spielt, der nach hinten wegdribbelt.

    Juwel

    Jules Koundé ist zweifellos einer der talentiertesten Spieler der spanischen Liga. Mit seiner Spielweise ist der junge Franzose in der Abwehr vielseitig einsetzbar, wobei er die Rolle des Innenverteidigers am besten ausfüllt. Er verfügt über eine hohe individualtaktische Qualität und ist im direkten Zweikampf schwer zu bezwingen. Doch er besticht zudem mit seinen Fähigkeiten in der Offensive. Er agiert sehr ruhig mit dem Ball, hat stets den ganzen Platz im Blick und ist in der Lage, das Tempo und die Dynamik des Spiels jederzeit zu verändern.

    [Datenstand: 08.04.2021]

    Talent ist im Fußball zwar sehr wichtig, aber vor allem auch die Mentalität, immer besser werden zu wollen. Und das verkörpert Jules ebenso wie die Liebe zu seinem Beruf.
    Julen Lopetegui, Cheftrainer FC Sevilla
    Weiterführende Links

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