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Bauer: "Wir bündeln derzeit die Kräfte im deutschen Fußball"

Pascal Bauer ist seit einem guten Jahr der Mann der Daten in der DFB-Akademie. Der Mathematiker mit der Trainer A-Lizenz kümmert sich im Innovation Desk um die Themen Datenanalyse und maschinelles Lernen. Im DFB.de-Interview spricht der 27-Jährige mit Redakteur Tobias Bach über den zweiten Hackathon der DFB-Akademie, das Moneyball-Prinzip und Jürgen Klopp.

DFB.de: Herr Bauer, im Fußball hört man immer wieder den Spruch: "Die Tabelle lügt nicht." Stimmt das auch aus Ihrer Sicht?

Pascal Bauer: Wenn man sich ein einzelnes Spiel anschaut, ist jedem klar, dass Glück und Pech eine Rolle spielen. Deshalb haben sich im Sprachgebrauch die Ausdrücke "verdienter Sieg" oder "unverdienter Sieg" etabliert. Im Fußball endet nur jeder 100. Angriff mit einem Tor. Statistisch gesehen ist daher eine Saison mit 34 Spielen und im Schnitt rund 50 Toren pro Team zu wenig, um den Faktor von Glück oder Pech zu egalisieren. Je mehr Spiele, desto eher steht eine Mannschaft auch da in der Tabelle, wo sie hingehört. Deshalb geht die Floskel absolut in die richtige Richtung, allerding ist es eher unwahrscheinlich, dass alle Mannschaften nach 34 Spieltagen exakt nach ihrer Leistung geordnet sind.

DFB.de: Matthew Benham ist der Meinung, dass die Tabelle lügt. Der Besitzer des dänischen Erstligisten FC Midtjylland und des englischen Zweitligisten FC Brentford hat bei beiden Vereinen das Moneyball-Prinzip, ein datengestütztes Management, eingeführt. Ist solch eine Methode im Fußball aus Ihrer Sicht sinnvoll?

Bauer: Das ist absolut sinnvoll. Gerade bezogen auf die Leistungsfähigkeit von Spielern. Der FC Liverpool ist ein eindrucksvolleres Beispiel. Sie versuchen, die ganze Spielerleistung in eine Zahl zu packen, vergleichbar mit den bekannten Spielerwerten aus der Videospielreihe FIFA, nur eben deutlich komplexer. Dabei beziehen sie auch die Transfersumme in ihr Modell ein. Die Berücksichtigung der Datenanalyse in das Transfermanagement ist eines der Erfolgsrezepte von Liverpool in den letzten Jahren, weil sie ihre Entscheidungen informierter treffen. Das fehlt noch in Deutschland, weil es in den Vereinen kaum Experten gibt, die sich explizit um die Arbeit mit Daten kümmern.

DFB.de: Ein interessantes Beispiel ist die letzte Saison von Jürgen Klopp bei Borussia Dortmund. 2014/2015 befand sich Klopp mit dem BVB zwischenzeitlich gar im Abstiegskampf. Trotz dieser schwachen letzten Saison holte ihn wenige Monate nach seinem Abschied aus Dortmund der FC Liverpool. Warum?

Bauer: Liverpools Datenexperte Ian Graham war tatsächlich der Meinung, dass die Tabelle in dem Fall gelogen hat. Sie haben sich nicht nur die Tore, sondern auch die Torchancen von Dortmund angeschaut und versucht, diesen Torchancen eine Torwahrscheinlichkeit zuzuschreiben. Dabei haben sie rausgefunden, dass Dortmund ähnlich viele Chancen rausgespielt hat wie zum Beispiel in ihren beiden Meisterjahren unter Klopp. Beim Ausnutzen der Chancen waren sie aber das zweitunglücklichste Team der letzten zehn Jahre. Grahams Rückschluss war, dass der Trainer keinen oder nur bedingt Einfluss auf diesen Umstand hat. Diese datenbasierte, objektivierte Bewertung der BVB-Saison könnte die letzten Zweifel bei Liverpool an einer Verpflichtung von Klopp ausgemerzt haben. In einem Interview mit der New York Times sagte Klopp einmal, bezogen auf exakt diese Analyse, dass er ohne Graham jetzt nicht in Liverpool wäre.

DFB.de: Jürgen Klopp ließ sich in Liverpool auf Graham und dessen Team an Datenanalysten ein. Sind Trainer im heutigen Fußball auf Match- und Datenanalysten angewiesen?

Bauer: Wir erfassen pro Sekunde in jedem Spiel über 1000 Datenpunkte, im Wesentlichen die Spieler- und Ballpositionen. Diese Informationen sind dank neuester Technologien zentimetergenau und vor allem objektiv. Selbst durch mehrfaches Sichten des Videomaterials kann kein Mensch diese Fülle an Informationen vollumfänglich verarbeiten - für Maschinen ist das dagegen innerhalb von Sekundenbruchteilen kein Problem. Durch diese Informationen gewinnt man keine Spiele, es hilft dem Trainer aber, exaktere Erkenntnisse zu ziehen und seine Eindrücke faktisch zu untermauern.

DFB.de: Das hört sich nach dem nächsten Level des Laptoptrainers an…

Bauer: Ganz im Gegenteil. Vielleicht schaffen wir es, einem Trainer seinen Alltag durch Daten so sehr zu vereinfachen, dass er sich um viel wichtigere Dinge kümmern kann. Zum Beispiel den menschlichen Umgang mit seinen Spielern, diese zu führen und zu motivieren. Um die Daten sollte sich ein Experte kümmern – das ist auch einer unserer Ansätze in der DFB-Akademie. Der "Trainer 4.0" muss lediglich offen genug sein, sich bei der Entscheidungsfindung helfen zu lassen, die vielen neuen Informationen zu verarbeiten und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen – dabei sollte und wird auch immer sein Gefühl eine Rolle spielen.

DFB.de: Die DFB-Akademie hat im Februar bereits den zweiten Hackathon gestartet. Dort treffen "Machine Learning" und "Künstliche Intelligenz" auf die Fußballpraxis, um Daten gezielt für taktische Spielanalysen einzusetzen. Welche Erkenntnisse haben Sie aus dem ersten Hackathon rund um das EM-Qualifikationsspiel gegen die Niederlande gezogen und welche Erwartungen haben Sie nun von der zweiten Auflage?

Bauer: Der Hackathon ist von uns unter anderem eine Dienstleistung für die Bundesligavereine, die über keinen Datenwissenschaftler verfügen oder im Bundesliga-Alltag schlichtweg keine Zeit haben, sich dem Thema selbst zu nähern. Am spannendsten am ersten Hackathon war, die Welt des Mathematikers beziehungsweise Informatikers mit der Welt des Fußballers beziehungsweise Matchanalysten zusammenzuführen. Sie haben erstmal aneinander vorbeigeredet. Wir hatten zu wenig Zeit und zu wenige Daten. Genau das haben wir jetzt geändert mit 60 Spielen und drei Monaten Zeit. Wir hoffen, aus dem Hackathon Ergebnisse zu ziehen, die wir dann auch für die EM 2020 oder Olympia nutzen können. Daher haben wir die Aufgabenstellung noch konkreter formuliert und nach unseren Problemen ausgerichtet, die wir nicht schon selbst bearbeiten. Es sind Matchanalysten aus der Bundesliga und 2. Liga dabei. Bei den Datenwissenschaftlern hatten wir Bewerbungen aus aller Welt – auch von bekannten Elite-Unis der USA.

DFB.de: In welchen Bereichen sind maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz im Fußball noch einsetzbar?

Bauer: Unser Hauptaugenmerk liegt momentan auf taktischen Analysen, Scouting, Belastungssteuerung und Verletzungsprävention. Das Feld der Datenanalyse bietet allerdings noch viel, viel mehr Möglichkeiten. Ein Beispiel: Manche Vereine wenden es an, um das Merchandising zu optimieren. Sie haben anhand der Daten gelernt, dass ein gewisser Anteil an Dauerkarteninhabern mit hoher Wahrscheinlichkeit bei einigen Spielen nicht ins Stadion geht. Infolgedessen überbuchen sie ihr Stadion, um das auszugleichen. Das kennt man von einigen Fluggesellschaften. Oder – anderes Beispiel – nehmen wir einmal das Gerücht, der Transfer von Cristiano Ronaldo zu Juventus Turin habe sich nach wenigen Wochen durch die Trikotverkäufe bereits refinanziert. Solche Verkaufszahlen lassen sich teils mit Daten vorhersagen. Hier herrscht noch viel Potenzial. Mit der DFB-Akademie fokussieren wir uns aber bewusst auf das Spiel und das Geschehen auf dem Rasen.

DFB.de: Sie sind viel unterwegs, waren zuletzt auch bei den Datenanalysten vom FC Barcelona zu Besuch. Wie modern ist der deutsche Fußball, wenn es um die Verwendung von Daten zur Spielanalyse im Vergleich zur internationalen Konkurrenz geht?

Bauer: Der deutsche Fußball ist wissbegierig, hat aber derzeit noch einen großen Nachholbedarf in diesem Feld. Der Vorreiter ist der US-Sport. Schauen wir auf den internationalen Fußball, liegen Barcelona und Liverpool vorne. Sie haben Abteilungen mit Datenwissenschaftlern und Mathematikern aufgebaut, die wirklich nur den Trainerteams zuarbeiten. Wir gehen das Thema auch erst seit einem Jahr in der Intensität an und versuchen, die Bundesligisten nach und nach mitzunehmen. Gemeinsam werden wir aufholen, wir bündeln derzeit die Kräfte im deutschen Fußball. Der Hackathon ist hier ein tolles Beispiel: Sowohl Eintracht Frankfurt als auch die Sportec Solutions GmbH, ein DFL-Tochterunternehmen, sind Mitveranstalter – die Offenheit von der Eintracht, dass hier auch andere Bundesligisten mitarbeiten dürfen, finden wir als DFB-Akademie sehr fortschrittlich und bemerkenswert.

DFB.de: In den USA haben Datenanalysen die Taktik im Baseball und Basketball grundlegend verändert. Steht eine ähnliche Entwicklung auch dem Fußball bevor?

Bauer: Fußball als Spiel ist viel komplexer und schwerer mathematisch zu modellieren. Das schränkt den Einfluss von Daten auf das Spiel tatsächlich ein. Lediglich ausgewählte Aspekte, wie die Besetzung von Pfosten bei Eckbällen oder die Wahl zwischen Mann- und Raumdeckung beim Verteidigen von Standards, könnten sich nachhaltig ändern, wenn man dies einmal über zehn Jahre hinweg analysiert hat. Denn bei Eckbällen haben wir auch diese Start-Stopp-Situation wie beim Baseball. Heutzutage geht hier immer noch viel nach dem Bauchgefühl. Wir erwarten keine Umwälzung der vorhandenen Strategien und Taktiken, aber in der Spitze machen oftmals Feinheiten den Unterschied. Dazu können wir einen kleinen Beitrag leisten.