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Herr und Clemens: "Individuelle Ansätze zum Wohle des Teams verbinden"

Bei der digitalen Tagung der DFB-Trainerinnen und -Trainer referierten sie am Dienstag gemeinsam zum Thema Führungsspieler*innen und Kaderzusammenstellung. Christofer Clemens, Leiter Scouting, Spielanalyse und Diagnose, und Christoph Herr, Teampsychologe der U 21-Nationalmannschaft, erklären im DFB.de-Interview, was Führungspersönlichkeiten ausmacht und wie sie die Trainer*innen vor großen Turnieren unterstützen.

DFB.de: Sie kommen gerade von der Trainer*innen-Tagung. Was waren die Themen, über die Sie sich mit Martina Voss-Tecklenburg, Stefan Kuntz und Co. ausgetauscht haben?

Christofer Clemens: Die Hauptthemen waren die Führungsspieler*innen, die zentrale Führungsachse und die Kaderzusammenstellung. Wir haben erklärt, wie wir im Zuge des Projektes "24/7" zu diesen Themen gekommen sind. Der Ansatz dahinter ist ein interdisziplinärer: Sportpsycholog*innen, Athletiktrainer*innen und Spielanalyst*innen arbeiten zusammen mit Cheftrainer*innen und fachfremden Expert*innen. Zusammen versuchen wir die Frage zu beantworten: "Was zeichnet Mannschaften im Fußball aus, die in den vergangenen Jahren Titel gewonnen haben und was können wir davon für uns mitnehmen?"

DFB.de: Und?

Clemens: Dazu blickt man zunächst zurück: Welche Muster gab es in Teams, die früher erfolgreich waren? Der erste Ansatz waren spielanalytische und -taktische Dinge. Später haben wir uns Einzelspieler*innen, ihr Verhältnis untereinander und Systeme näher angeschaut. Dabei kam der Gedanke auf, Führungsspieler*innen genauer unter die Lupe zu nehmen. Und das war die Brücke zu Christoph Herr, zum sportpsychologischen Bereich.

Christoph Herr: Abseits von klassischer Spielanalyse ging es darum, zu klären, welche Faktoren Führungsspieler*innen auszeichnen. Neben all den vielschichtigen Facetten eines Menschen kamen wir auf drei zentrale Bestandteile: Kommunikationsfähigkeit im Team, Verantwortungsbewusstsein und Anerkennung. Werde ich von der Mannschaft anerkannt und erkenne ich andere an? Drei für Führungspersönlichkeiten wichtige Charakteristiken.

DFB.de: Zeichnen allein diese drei Bereiche Führungspersönlichkeiten aus?

Herr: Nicht ausschließlich. Dazu kommen weitere individuelle Charakterzüge, die im Sport bedeutend sind. Diese drei - Kommunikationsfähigkeit, Verantwortungsbewusstsein und Anerkennung - sind für Führungsspieler*innen aber zentral.

DFB.de: Lassen sie sich bemessen und wenn ja, wie?

Herr: Ja. Es gibt verschiedene Diagnostiken, zum Beispiel qualitative oder quantitative Fragebögen. Trainer*innen können mithilfe halbstandardisierter Fragebögen eigene Fragen entwickeln oder auch Interviews führen und so die drei Faktoren und ihre Ausprägung herausfinden. Zudem gibt es Teamanalysen, die einen Einblick geben, welche Eigenschaften im Team vorzufinden sind und welche Bereiche noch lückenhaft sind. Wichtig ist, dass diese Tools als Diskussionsgrundlage - und nicht zur Selektion - genutzt werden.

DFB.de: Ein Angebot also, das Sie den Trainer*innen als Teampsychologe an die Hand geben. Ein Spielanalyst arbeitet ähnlich. Herr Clemens, wie sehen Sie Ihre Rolle im Team hinter dem Team?

Clemens: Zuzuhören ist in unseren Berufen wichtig. Von einer Eishockey-Analystin habe ich mal gehört: "Listen more than you speak", also ungefähr: "viel zuhören, wenig selbst sprechen". Spielanalyse und Psychologie hängen in vielen Bereichen zusammen. Wir beide machen Diagnostik, beobachten und analysieren eine Mannschaft und ihre Spieler*innen. Wir priorisieren aber auch: Welche Info ist wichtig, welche nicht? Beide Felder haben ihren Einfluss auf den Mannschaftserfolg. Wir wollen unsere Rollen aber nicht überinterpretieren. Trainer*innen und Spieler*innen sind am Ende die, aufgrund derer auch wir da sind. Es bleibt die Frage: Was hilft einer Mannschaft?

DFB.de: Was antwortet der Spielanalyst?

Clemens: Vielleicht, dass sie ein Videobild braucht. Oder ein Gespräch. Oder eine taktische Information über den Gegner. Oder eine spielanalytische Bestärkung der eigenen Leistung. Das sind die Einschätzungen, die wir an den Trainerstab weitergeben. Die Prozesse und Zielsetzungen sind in der Psychologie die gleichen.

Herr: Diese beratende, beobachtende Rolle, nehme ich auch ein und bin dabei so passiv wie möglich, beziehungsweise so aktiv wie nötig. Natürlich arbeiten wir sehr vertrauensvoll. Wir brauchen das Vertrauen - seitens Trainer*in, seitens Spieler*in. Haben wir das, können wir Impulse setzen. Die meiste Zeit verbringen Spieler*innen aber in den Vereinen. Deshalb braucht es eine gute Vernetzung und Austauschformate zwischen Nationalmannschaften und Vereinen.

DFB.de: Trainerstäbe wachsen, Spezialist*innen unterstützen Spieler in verschiedenen Bereichen. Wie zeigt sich die Individualisierung in Ihren Bereichen?

Herr: In der Sportpsychologie müssen wir individuell auf die Bedürfnisse Einzelner eingehen. Jeder Mensch ist anders, jedes Gehirn tickt anders. Wenn wir über Teamkultur sprechen, wollen wir aber nicht nur den individuellen, sondern einen allgemeinen Ansatz finden. Die Kunst ist es, die individuellen Ansätze zum Wohle der Teamleistung zu verbinden. In dem Moment, wo ich ein Einzelgespräch führe, kann ich auch auf den Teamprozess einwirken, obwohl ich gar nicht mit der ganzen Mannschaft spreche.

Clemens: "Act local, think global" - das passt ganz gut. Individualisierung ist ein wichtiges Thema. Unsere Spielanalysten sind zum Beispiel in die positionsspezifischen Programme eingebunden. Der Ansatzpunkt hier ist: Den Einzelnen besser machen, um das ganze System besser zu machen. Dabei spielt der Blick auf das große Ganze aber eine wichtige Rolle. Wenn ein Spieler die Information bekommt: "Sprinte öfter in diesen Raum", aber am Ende spielt niemand einen Pass dorthin, habe ich vielleicht den Einzelnen besser gemacht, aber nicht das Team.

DFB.de: Im Sommer stehen wichtige Turniere an. Wie weit sind Sie in Ihren Vorbereitungen darauf?

Herr: Die U 21-Europameisterschaft wird in zwei Teilen gespielt. Vor dem Viertelfinalspiel Ende Mai haben wir länger als sonst Zeit, uns auf ein Spiel vorzubereiten. Die größte Herausforderung aus psychologischer Sicht ist, den Jungs trotz Corona-Maßnahmen genug Freiraum zu geben. Wir wollen den Lagerkoller verhindern, eine Gegenwelt schaffen und Tankstellen kreieren, dass sie nicht nur permanent auf Fußball fokussiert sind.

Clemens: Im Bereich der Spielanalyse steht jetzt extrem viel Videoanalyse an. Der Fokus ist geschärft und voll auf die Turniere eingestellt. Nachdem wir bei der Trainer*innen-Tagung waren, schieben wir jetzt alle Themen außerhalb der EURO möglichst weg. Die Spieler beobachten wir schon das ganze Jahr über intensiv und interdisziplinär. Das hängt direkt zusammen: Es braucht nicht nur gute Typen mit Führungspersönlichkeit, die kommunizieren, Verantwortung übernehmen und anerkennen - gute Fußballer sollten sie schon auch sein. Dieses Bild der Spieler schärfen wir gerade, so dass die Trainer*innen es mit ihren eigenen Beobachtungen ergänzen können.

DFB.de: Mit welchem Feedback, mit welchem Gefühl sind Sie aus der Trainer*innen-Tagung rausgegangen?

Clemens: Die Relevanz von Psychologie und Spielanalyse im Fußball ist gegeben. Spieler*innen und Trainer*innen bemerken unsere Arbeit und schätzen sie. Die Herausforderung besteht darin, verantwortungsbewusste, kommunikationsfähige und Leistung anerkennende junge Menschen zu begleiten und zu entwickeln. Das lässt sich nur im Austausch zwischen uns als Verband und den Vereinen lösen. Wir versuchen, hier Impulse zu setzen.

Herr: So ist es. Der Impuls ist extrem wichtig. Die klassische Entwicklung muss aber in den Vereinen passieren. Dafür müssen sich Klubs, Liga und Verband noch stärker vernetzen.