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Silke Rottenberg: "Man braucht eine gewisse Verrücktheit"

Vom 13. bis 16. März fand für die U 16- und U 17-Juniorinnen das Torhüterinnen-Camp in Bitburg statt. Nominiert waren 16 Torhüterinnen der Jahrgänge 2005 und 2006. Verantwortliche Trainerin dieser Maßnahme war Silke Rottenberg, ehemalige Nationaltorhüterin. Seit ihrem Karriereende vor 13 Jahren ist sie beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) als Torwarttrainerin aktiv. Auf DFB.de spricht sie über die zurückliegende Maßnahme und die kürzlich entwickelte "Torhüter*innen-DNA".

DFB.de: Wie zufrieden waren Sie mit der Maßnahme?

Silke Rottenberg: Die Mädels haben sehr engagiert trainiert und hatten richtig Lust, sich zu zeigen. Nur die Platzverhältnisse waren wetterbedingt leider nicht so gut, da mussten sie ganz schön ran. Insgesamt konnten wir viele Erkenntnisse sammeln, daher war das Torhüterinnen-Camp in meinen Augen sehr erfolgreich.

DFB.de: Die Anforderungen an Torhüter*innen sind in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. Um Nachwuchstorhüter*innen bestmöglich darauf vorzubereiten, hat die DFB-Akademie die "Torhüter*innen-DNA" entwickelt. Was hat es damit auf sich?

Rottenberg: Die "Torhüter*innen-DNA" ist ein gemeinsames Werk der weiblichen und männlichen Torwartabteilung. Sie ist wie die Beschreibung eines Fingerabdrucks. Letztlich soll die DNA eine Unterstützung sein, um aufzuzeigen, was auf internationalem Niveau erwartet wird und wie Torhüter*innen ausgebildet werden sollten. Die DNA besteht aus 10 Bausteinen, die in den Entwicklungsjahren erarbeitet werden sollen. Sie veranschaulicht deutlich das Anforderungsprofil. Beim Torwartspiel geht es nicht nur darum, den Kasten sauber zu halten, sondern auch darum, die eigene Werkzeugkiste so gut wie möglich zu füllen, um situativ handeln zu können. Mit dem Anforderungsprofil unserer DNA lässt es sich auf, aber auch neben dem Platz sehr gut arbeiten.

DFB.de: Welche Rolle hat die "Torhüter*innen-DNA" bei der Maßnahme gespielt?

Rottenberg: Da auch Torhüterinnen beim Camp dabei waren, die wir nicht regelmäßig auf Mannschaftslehrgängen sehen, haben wir die Mädels erst einmal mit den Bausteinen der DNA vertraut gemacht und konnten, aufgrund unserer unterschiedlichen Schwerpunkte im Lehrgang, in Theorie und Praxis intensiv damit arbeiten.

DFB.de: Was waren die Schwerpunkte?

Rottenberg: Das Offensivspiel mit technischen und taktischen Bausteinen ist immer ein wichtiger Bestandteil des Camps. Auch die Raum- und Zielverteidigung spielen in der Ausbildung eine große Rolle. In der Zielverteidigung haben wir uns auf zwei Themen fokussiert: Entscheidungen im Eins-gegen-Torhüterin treffen sowie den Abdruck beim freien Torschuss. Das Ganze haben wir analytisch aufgebaut, aber der Trainingsschwerpunkt lag ganz klar darauf, situativ handeln zu müssen: Was passiert im Spiel? Welche Situationen entstehen aus Spielsituationen? Und wie sollte die Torhüterin sich technisch, aber auch taktisch verhalten, um möglichst erfolgreich handeln zu können?

DFB.de: Inwiefern hat die "Torhüter*innen-DNA" hier eine Rolle gespielt?

Rottenberg: Jede Trainingseinheit besteht aus vier Schwerpunkten. In der Vorbereitung besprechen wir taktische und technische Details. Die DNA lässt sich am besten an einem Beispiel veranschaulichen. Ein Baustein der DNA ist die Raumverteidigung. Also wie verhält sich die Torhüterin zum Beispiel bei Flanken? Hier liegt der Fokus unter anderem auf der hohen und offenen Positionierung im Raum. Das bedeutet, den Raum offensiv zu beherrschen, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren. Die Torhüterin muss immer wieder ihre Position anpassen. Dafür sollte sie immer "online sein", auch ein DNA-Begriff. Damit ist gemeint, das Spielgeschehen aufmerksam und frühzeitig zu scannen, um auf alles gefasst zu sein, nicht abzuschalten, sich am Ball zu orientieren und wichtige Standbilder des Spiels ("Big Pictures") zu erkennen. Im Prinzip geht es immer ums Wahrnehmen, Entscheiden und Umsetzen. Um den Raum beherrschen zu können, ist es wichtig, dass die Torhüterin mutig, aber auch aktiv in der Luft ist. Hier kommt deutlich ihre Persönlichkeit zum Tragen. Zudem ist die Athletik eine wichtige Grundlage, um am Ende performen zu können. Das war ein Beispiel wie wir die Raumverteidigung mit der DNA verknüpft haben. Insgesamt gehören viele Details dazu. Für die Torhüterinnen sind es hilfreiche Bausteine, mit denen sie arbeiten und an denen sie sich orientieren können.

DFB.de: Das klingt sehr komplex. Wie haben Sie das den Teilnehmerinnen vermittelt?

Rottenberg: Das hört sich komplex an, ist aber im Grunde sehr verständlich, wenn man sich mit dem Torwartspiel befasst. In der Vorbereitung auf die Einheit haben wir die Bausteine mit Spielvideos aus der Frauen-Bundesliga oder der Nationalmannschaft verdeutlicht. Die nennen wir Basis-Szenen. Wir schauen uns an, was im "großen Spiel" passiert und wie die Details auf die Trainingseinheit heruntergebrochen werden können. Die Trainingseinheit mit den Mädels wird aufgenommen und im Nachgang nochmal besprochen. Wir schauen uns die Abläufe im Detail an und unterhalten uns über einzelne Sequenzen. Wenn wir die Torhüterinnen fragen: "Was hast du in dieser Situation gut gemacht?", tauchen dann schon Antworten auf wie: "Ich war online und habe die Situation/das 'Big Picture' erkannt", "Ich habe gut im Raum agiert, indem ich meine Position aktiv angepasst habe" oder "Ich hatte eine sehr gute Stabilität in der Luft und bin dynamisch und robust zum Ball gegangen."

DFB.de: In dem Lehrgang waren zwei unterschiedliche Altersklassen vertreten, die U 16 (Jahrgang 2006) und die U 17-Juniorinnen (Jahrgang 2005). Unterscheidet sich da das Torwarttraining?

Rottenberg: Nein, das Training unterscheidet sich nicht. Wir bewegen uns in Altersklassen, die man sehr gut zusammenfassen kann, weil sie in den letzten zwei bis drei Jahren schon viel gelernt haben. Wir testen eher, wie weit eine 2006er-Tohüterin von einer 2005er-Torhüterin entfernt ist und ob die aktuell besten 2006er nah an den besten 2005ern dran sind. Es gibt keine Unterschiede in der Trainingsauffassung, aber wenn wir merken, dass eine Gruppe überfordert ist, müssen wir als Trainer*innen das Training natürlich anpassen. Dann wird eine Übung heruntergebrochen, damit die Spielerinnen auch das Gefühl haben, dass sie etwas aus einer Übungseinheit mitnehmen. Wir wollen die Torhüterinnen fordern, aber nicht überfordern. Denn sonst nehmen sie am Ende gar nichts mit und das ist nicht sinnvoll. Das Ziel liegt nicht darin, nur den Ball zu halten, sondern auch technische und taktische Elemente so mitzukriegen, dass man zuhause daran arbeiten und sie bestenfalls im Spiel umsetzen kann.

DFB.de: Hilft es, schon in jungen Jahren mit der technischen Komponente in Berührung zu kommen oder leidet darunter möglicherweise die Intuition der Torhüter*innen?

Rottenberg: Das muss man zweigeteilt betrachten. Auf der einen Seite sollen junge Spielerinnen versuchen, intuitiv Situationen zu bewältigen. Aber je besser man sich technisch vorbereitet und je besser das taktische Verständnis entwickelt wird, desto besser kann man in bestimmten Situationen handeln. Wir wollen keine Torhüterinnen klonen, aber wir haben gewisse Vorstellungen und einen roten Faden, an dem wir uns entlanghangeln. Dafür haben wir auch den "Leitfaden Torwartspiel" geschrieben, in dem es darum geht, Techniken zu erlernen und Sicherheit auszustrahlen. Aber es gibt auch den schönen Satz: "Wenn der Ball gehalten ist, war es erstmal nicht verkehrt." Unterm Strich sollte sich jede Torhüterin entfalten und ausprobieren können.

DFB.de: Welche Grundvoraussetzung muss eine Spielerin Ihrer Meinung nach mitbringen, um eine gute Torhüterin zu werden?

Rottenberg: Das Wichtigste ist der Spaß am Torwartspiel. Aber Mut gehört auch dazu. Torhüterin zu sein ist nun mal ein bisschen was anderes. Man braucht eine gewisse Verrücktheit und eine starke Persönlichkeit, die man nach und nach entwickelt. Man sollte auch nicht daran zerbrechen, wenn man mal einen Fehler macht. Außerdem muss man es lieben, Verantwortung zu übernehmen. Für die meisten Torhüterinnen gibt es nichts Schöneres, als den entscheidenden Ball zu halten und der Mannschaft mit einer guten Performance dabei zu helfen, Spiele zu gewinnen.

DFB.de: Um nochmal auf das Torhüterinnen-Camp zurückzukommen: Welche Aufgaben übernehmen Sie in solchen Maßnahmen?

Rottenberg: Ich entwickle gemeinsam mit meinem Torwarttrainer*innen-Team die Inhalte des Camps. Jeder Trainer bereitet im Vorfeld ein Thema vor. Dann tauschen wir uns nochmal über Details aus. Während der Maßnahme stehe ich in der Regel nicht immer aktiv auf dem Platz. Dadurch kann ich mir alle Torhüterinnen genau anschauen. Wenn ich selbst permanent aktiv dabei wäre, würde ich recht wenig vom "großen Ganzen" sehen. Aber ich bin natürlich nach wie vor sehr gerne aktiv und musste auch bei diesem Camp einspringen, da mein Torwarttrainer*innen-Team leider coronabedingt geschrumpft war. Ein wichtiger Teil meiner Arbeit ist aber auch das "neben dem Platz". Wir arbeiten Videosequenzen der Einheiten aus und stellen sie den Vereinstrainer*innen mit unseren Erkenntnissen und Beobachtungen zur Verfügung. Davon erhoffen wir uns, einen unterstützenden Mehrwert für Torwarttrainer*innen in den Vereinen der Teilnehmerinnen liefern zu können. Das Feedback ist bislang auch immer sehr wertschätzend gewesen. Insgesamt zählt zu meinem Aufgabengebiet also sehr viel Administration, aber auch die Unterstützung des Teams sowie die Aus- und Weiterbildung.

DFB.de: In der Analyse des Torwartspiels hat sich vor allem bei den Frauen in den letzten Jahren viel getan. Wie würden Sie die Entwicklung beschreiben?

Rottenberg: Grundsätzlich positiv. Um ein Beispiel zu nennen: Beim DFB ist es inzwischen üblich, eine Kamera mit aufs Spielfeld oder ins Training zu nehmen. Video-Scouting sowohl im Spiel als auch im Training ist die Basis, um an technischen und taktischen Defiziten zu arbeiten. Mädels wollen in der Regel immer lernen und alles wissen. Ich habe selten eine Torhüterin erlebt, der es egal ist, wie sie den Ball hält. Die Spielerinnen wollen immer ihre Videos sehen und schauen, was sie gut machen und wo sie sich verbessern können. Das kann das bloße Auge nicht immer erkennen. Eine solche Videoanalyse kann leider nicht jeder Verein leisten. Das liegt unter anderem daran, dass es zu wenige Torwarttrainer*innen gibt und viele die Tätigkeit in ihrer Freizeit ausüben. Außerdem fehlt es teilweise noch an Wertschätzung, dass Torwarttrainer*innen ein wichtiger Bestandteil der Ausbildung sind. Da gibt es nach wie vor Luft nach oben.

DFB.de: Wie ist die Ausbildung heutzutage im Vergleich zu Ihrer eigenen Karriere?

Rottenberg: Da liegen Welten zwischen. Zu meiner Zeit war alles noch ganz anders. Ich habe mit 24 mein erstes professionelles Torwarttraining bekommen. Zudem bin ich erst mit 17 ins Tor gewechselt. Ich hatte deutlich schlechtere Voraussetzungen als jedes 14-jährige Mädchen heutzutage, deswegen hinkt der Vergleich. Die Mädels können sich das heute gar nicht vorstellen, wie es noch vor gar nicht so langer Zeit war. Die Vereine sind deutlich professioneller geworden, insbesondere wenn man sich die Top-Vereine bei den Frauen anschaut, wie Wolfsburg, Bayern München, Frankfurt und mittlerweile auch Potsdam und Leverkusen, die jetzt auch mit festangestellten Torwarttrainer*innen in der ersten Liga arbeiten. Das ist eine tolle Entwicklung, aber da muss sie auch hingehen. An der Basis, unserem Fundament, muss noch gearbeitet werden! Deshalb müssen auch die jungen Torhüterinnen mindestens zweimal in der Woche torwartspezifisch ausgebildet werden. Es ist gut und wichtig, dass sich viel entwickelt, denn die Torhüterin ist schließlich ein wichtiger Baustein im Spiel.