Offensivspiel

Welchen Einfluss hatten die Torhüter auf das Offensivspiel bei der EURO 2024?

In der DFB Torwart DNA ist auch das Offensivspiel verankert. Torhüter*innen gelten als 1. Offensivspieler*innen und zeichnen sich dadurch aus, dass sie Spielphasen erkennen und in der Lage sind, als Impulsgeber*innen das Spiel mitzugestalten. Bei der Weltmeisterschaft 2022 verfolgten die meisten Nationen noch eine "Null Risiko Strategie" und spielten vor allem lange Bälle. Die Europameisterschaft zwei Jahre später zeigte hingegen andere Herangehensweisen, um so auch die Stärken der Torhüter in das Spiel zu integrieren.

Daten aus der EM-Analyse: Offensivspiel

Das Offensivspiel macht einen Großteil der Spielaktionen bei Torhütern aus. In den letzten Jahren hat sich die Qualität der Torhüter im Offensivspiel rasant weiterentwickelt und damit wächst auch der Anspruch an die Torhüter, in den jeweiligen Spielsituationen. In der Offensive gibt es für den Torhüter folgende Spielsituationen:

  • Spielauslösung (Standardsituationen wie Abstoß oder Freistoß)
  • Spielfortsetzung nach Rückpass
  • Spielfortsetzung nach Defensivaktion.

Die Grafik zeigt, dass bei der EURO 2024 70% der Offensivaktionen ohne Anspruch erfolgten und 30% entsprechend mit Anspruch waren. Auch die vier Torhüter der Halbfinalmannschaften bewegen sich sehr nah am Durchschnitt.

Um in diesen Spielsituationen sinnvoll Impulse setzen zu können, benötigen die Torhüter verschiedene Techniken mit beiden Füßen. Wie für die gesamte EURO-Analyse gilt auch für die Bewertung der Offensivaktionen, ob die einzelnen Szenen

  • ohne Anspruch
  • mit Raum-, Zeit- und/oder Gegnerdruck
  • mit technische Anforderungen oder
  • mit Präzisionsdruck

stattgefunden haben.

Die erhobenen Zahlen zeigen, dass die Top-Torhüter prozentual gesehen ihren schwächeren Fuß selten nutzen (mussten). Der französische Torhüter Mike Maignan fällt in den Zahlen auf und führte 19% seiner Offensivaktionen mit dem schwächeren Fuß aus.

Dies kann verschiedene Gründe haben:

    1. Der Ball wird von William Saliba (Frankreich) in einem Zweikampf, der in der gefährlichen Zone stattfindet, erobert. Da er keine anderen Anspieloptionen hat und zudem unter großem Raum- und Gegnerdruck steht, entscheidet sich der Franzose für einen Pass zum Torhüter.

    2. Um den Ball aus der Gefahrenzone zu bringen, spielt Maignan (Frankreich) einen langen Ball mit dem linken Fuß.

    1. Noch bevor Maignan (Frankreich) angespielt wird, scannt er den Raum.

    2. Mit einem sauberen ersten Kontakt nimmt Maignan den Ball zur Seite mit, um das Passfenster auf den Mittelfeldspieler zu öffnen, und um ihn mit dem linken Fuß anzuspielen.

    3. Nachdem Maignan den Pass gespielt hat, sucht er schnellstmöglich eine bessere Position, bleibt online und somit in der Aktion.

    4. Maignan wird erneut angespielt und passt den Ball mit seinem rechten Fuß ...

    5. ... in den Lauf des Außenverteidigers, um Dynamik auszulösen.

Exzellente Basics

Ziel der Analyse des Offensivspiels war es, herauszufinden, welche Eigenschaften die Torhüter mitbringen müssen, um den Takt, das Tempo und den Spielverlauf mitbestimmen zu können. Im Analyse-Prozess wurde deutlich, dass erfolgreiche Mannschaften im Offensivspiel auf die Stärken und Fähigkeiten der Torhüter setzen, um die Spielkonzeption umsetzen zu können.

Torwartspezifische Fähigkeiten
    • "Sinnvoll" anspielbar machen
    • Vororientierung – wenn möglich mehrfach (Blick in die Tiefe)
    • Chancen- und Risikoabwägung
    • "spieldienliche" Entscheidung oder Umsetzung des Matchplans
    • 1. Kontakt bewusst einsetzen, um beispielsweise den Gegner zu locken, zu binden, zu überwinden oder einen besseren Winkel zu schaffen
    • Scharfes Passspiel
    • Flache Flugkurve und hohe Reichweite bei Flugbällen
    • Beidfüßigkeit
    • Präzise in den Vorfuß oder in die Vorwärtsbewegung spielen
Torwartspezifisches Handeln nach der Spielkonzeption
    • Risikominimierung im Aufbauspiel
    • Pressing des Gegners frühzeitig auflösen
    • Geplante weiträumige Lösung
    • Spieler locken und binden
    • Passfenster bzw. Räume erkennen und nutzen
    • (Pressing-)Spieler überspielen

Drucklöser und Impulsgeber

Die Spielkonzeption kann unterschiedliche Anforderungen an die Torhüter*innen stellen. Wenn diese vorwiegend als "Drucklöser" agieren sollen und die Spielidee es vorsieht, dass weiträumige Lösungen gesucht werden, sind für die Torhüter*innen vor allem die Schlagweite, die Wahrnehmung der Zielspieler*innen und die Präzision im Offensivspiel entscheidend. Für mitspielende Torhüter*innen ist es hingegen wichtig, dass sie Passfenster erkennen und mit Drucksituationen umgehen können.

Bedeutung von Zielspielern

Bei der EURO 2024 waren 47% der qualitativen Offensivaktionen Flugbälle. 44% dieser Bälle kamen beim Zielspieler an, so dass die Mannschaft in den folgenden Aktionen zu 75% die Ballkontrolle behielt und nur zu 25% der Gegner in Ballbesitz kam.

In 56% der Fälle wurde der Zielspieler nicht gefunden. Anschließend war die gegnerische Mannschaft auch zu 71% in Ballbesitz und man konnte nur in 29% der Fälle den Ball (innerhalb von 3 Sekunden) zurückerobern.

Spielkonzeption anhand des Torwartspiels erkennen

Bereits am Verhalten der Torhüter wurden die verschiedenen Spielideen der einzelnen Nationen deutlich. Um die unterschiedlichen Herangehensweisen detaillierter darzustellen, wurde das Spielfeld in der Analyse in verschiedene Ebenen unterteilt und herausgefiltert, wie die Torhüter qualitative Aktionen lösten.

Die Grafik verdeutlicht den Zusammenhang zwischen der durchschnittlichen Passtiefe und der Passquote. Die Abbildung zeigt, dass Yann Sommer (Schweiz) überdurchschnittlich oft eine kurze Spieleröffnung suchte, da er fast ausschließlich in der ersten Ebene agierte. Mert Günok (Türkei) hingegen spielte fast ausschließlich lange Bälle.
 

Das Erfolgsrezept: Matchplan

Die Spielstile „Drucklöser“ und “Impulsgeber“ sind nicht als zwei trennscharfe Ideen anzusehen, sie definieren eher ein übergeordnetes Mindset der Mannschaft im Offensivspiel. Es fiel auf, dass Frankreich (Maignan) und England (Pickford), im Spielaufbau von Ihren Torhütern überwiegend einforderten als “Drucklöser“ zu agieren, um kein gegnerisches Angriffspresing zu ermöglichen. Dennoch konnten auch diese beiden Torhüter situativ Offensivimpulse setzen.

Die Niederlande (Verbruggen) und Europameister Spanien (Simon) waren hingegen bereit im Aufbauspiel mit den Torhütern ein höheres Risiko einzugehen, um mit flachen und damit leichter zu kontrollierenden Pässen das Angriffspressing zu überspielen und sich so ins gegnerische Angriffsdrittel zu kombinieren.

Europameister Simon

Der Europameister reagierte am besten auf die unterschiedlichen Matchpläne der gegnerischen Nationen und integrierte eine gewisse Variabilität in die eigene Spielidee, so dass unabhängig vom Gegner immer die richtigen Impulse gesetzt werden konnten. Dabei profitierte der spanische Torhüter im Turnierverlauf von klaren Ideen im Zusammenspiel mit der Mannschaft und schaffte es in den meisten Spielen eine gute Balance zwischen dem Agieren als "Drucklöser" und dem Handeln als "Impulsgeber“ zu finden.

    1. Unai Simon führt den Ball und erkennt, dass der Gegner (Deutschland) im 1 gegen 1 über das gesamte Feld verteidigt.

    2. Damit sich für Unai Simon Optionen in der Spielfortsetzung ergeben, zieht der äußere Mittelfeldspieler nach innen und der Stürmer kommt entgegen.

    3. Durch diese Bewegungen entsteht ein Raum, den Unai Simon wahrnimmt und durch einen scharfen Flugball bespielt.

    1. Spanien hatte in seinem Matchplan weitere Varianten integriert, um das konsequente 1 gegen 1 des Gegners zu überspielen.

    2. Durch einen Lauf in die Tiefe wird der Raum hinter der Abwehrkette des Gegners bedroht.

    3. Unai Simon erkennt den Laufweg und bespielt den Raum.

    1. Die Spielkonzeption der Spanier sah eine dritte Variante gegen das konsequente 1 gegen 1 vor.

    2. Die Offensivreihe löst eine Bewegung aus.

    3. Durch die Impulse der Mitspieler entstehen Räume. Da Unai Simon die erste Passoption nicht nutzt, bleiben die Offensivspieler in der Bewegung.

    4. Nach einem erneuten Positionswechsel der Stürmer öffnet sich ein weiteres Passfenster, das Unai Simon nutzt, um Williams flach anzuspielen.

    1. Der spanische Innenverteidiger Robin Le Normand entscheidet sich für einen Pass zu Unai Simon und passt seine Position anschließend neu an.

    2. Unai Simon verlagert das Spiel auf die andere Spielfeldseite.

    3. Laporte (spanischer Innenverteidiger) hat keine Anspieloptionen nach vorne und spielt zurück zu Unai Simon.

    4. Simon verlagert erneut das Spiel zu Le Normand und spielt dabei in die Vorwärtsbewegung des innenverteidigers.

    5. Dieser hat durch die Verlagerungen und die damit verbundenen Verschiebebewegungen der Engländer Raum und kann andribbeln.

    1. Nacho (Spanien) spielt den Ball auf Unai Simon. Kolo Muani (Frankreich) spekuliert auf diesen Pass und setzt Unai Simon unter Druck.

    2. Der spanische Torhüter verlagert auf Laporte.

    3. Nachdem Laporte den Ball zurück zu Simon gespielt hat, läuft Kolo Muani Simon intensiv an. Simon passt unter Gegnerdruck zu Nacho.

    4. Kolo Muani läuft in höchstem Tempo Nacho an, der eine Lösung nach vorne sucht. Lamine Yamal kommt entgegen und bietet Nacho eine Anspieloption.

    5. Lamine Yamal hat Gegnerdruck, kann sich nicht aufdrehen und passt daher zurück zu Unai Simon.

    6. Unai Simon verlagert mit dem ersten Kontakt auf Laporte. Die französische Mannschaft muss dadurch komplett verschieben und auf sich auf die andere Seite verlagern.

    7. Laporte lockt die französischen Spieler auf seine Seite und spielt erneut zurück auf Unai Simon.

    8. Über Unai Simon binden die Spanier die Franzosen in ihrer Hälfte. Durch die vielen Verlagerungen schaffen die Spanier Räume und Unai Simon kann im richtigen Moment nach vorne spielen.

    1. Unai Simon dient im Aufbauspiel als Überzahlspieler und verlagert das Spiel auf den rechten Innenverteidiger.

    2. Robin Le Normand nimmt den Ball an, wartet bis er angelaufen wird und spielt im richtigen Moment auf Unai Simon zurück.

    3. Nun lockt Unai Simon Harry Kane, indem er mit einer Spielfortsetzung wartet.

    4. Erst nachdem der Engländer den spanischen Torhüter angelaufen hat, passt dieser zurück auf Le Normand. Die Engländer verschieben daraufhin entsprechend.

    5. Phil Foden setzt Le Normand nun energisch unter Druck, sodass dieser nur noch zu Unai Simon spielen kann. Mit dem Pass auf Simon gehen alle englischen Spieler dem Ball nach.

    6. Noch während der Ball auf dem Weg zu Simon ist, scannt dieser den Raum und hat einen Blick in die Tiefe. Er nimmt den Ball zur Seite mit, um sich etwas Zeit zu verschaffen und ...

    7. ... bespielt den freien Raum im Rücken des aufgerückten Gegners.

Erkenntnisse des Turniers

Spielaufbau

Bei Gegnerdruck kann der Torhüter elementar im Spielaufbau sein.

Technische Fähigkeiten

Die technischen Fähigkeiten sowie die psychische Stabilität beeinflussen die Möglichkeiten im Offensivspiel.

Variabilität

Variabilität im Offensivspiel ist ein Schlüssel zum Erfolg.


Aus dem Turnier in das Training

Integratives Training

Die Erkenntnisse der EURO Torwart-Analyse zeigen, wie wertvoll ein aufeinander abgestimmter Offensivspielplan für eine Mannschaft sein kann. Entsprechend hat gerade im Offensivspiel das integrative Training aus dem Trainingsmodell W-A-S-I-C eine sehr große Bedeutung. Denn nur im Mannschaftstraining lassen sich ähnliche Situationen mit realem Spielerverhalten nachstellen, trainieren und somit das Entscheidungsverhalten unter Gegnerdruck verbessern.

Umsetzungsmöglichkeiten des integrativen Trainings