Fokus Mittelfeld: Drucksituationen über das Zentrum auflösen

DFB startet positionspezifisches „Mittelfeld-Programm“

Talententwicklung
Eine Übung auf einem Großfeld mit allen Spielern. In der Mitte des Bildes ist ein Spieler am Balld, welche von drei Verteidigern angelaufen wird. © 2019 Getty Images

Strateg*in, Sprachrohr, Strippenzieher*in: Zentrale Mittelfeldspieler*innen sind längst nicht mehr nur Abräumer vor der Abwehr oder kreative Köpfe für den finalen Pass. Die Zentrale bedeutet viele unterschiedliche, wiederkehrende Anforderungen für eine Position. Um den Nachwuchs auf diese Herausforderungen vorzubereiten, hat der Deutsche Fußball-Bund mit der DFB-Akademie ein Mittelfeldspieler*innen-Programm entwickelt, welches die Ausbildungsqualität kurz- bis mittelfristig erhöht.

Wiederkehrende Herausforderungen

Der Kern des Programms ist es, für die im zentralen Mittelfeld stets wiederkehrenden Herausforderungen Trainingsansätze und Lösungen aufzuzeigen, damit diese möglichst oft optimal gelöst werden. Weltklassespieler*innen gelingt die optimale Erfüllung ihrer Positionsaufgaben, ohne die Individualität und Flexibilität in ihrem Spiel zu verlieren. Dabei überzeugen sie mit einem Rollen- und Selbstverständnis, den Mitspieler*innen stets zu helfen und es ihnen einfach zu machen. Sie wollen das Zentrum kontrollieren, wofür ein ausgezeichnetes Raumverhalten, Positions-Disziplin, Überzeugung und ständige Aufmerksamkeit unabdingbar sind – getreu dem Grundsatz "Wer das Zentrum beherrscht, der beherrscht das Spiel."

Der 'Sechser' ist für mich das GPS des ganzen Spiels. Er denkt, lenkt und entscheidet oft auch die Spiele.
Sami Khedira

Der Blick auf die Daten unterstützt die Beobachtungen, wie die nachstehende Grafik zeigt. Der Ballsicherheits-Index gibt an, wie oft unterschiedliche "Sechser*innen" angespielt werden und wie oft sie diesen wieder verlieren. Dem Index wird der Anteil an Pässen ins Angriffsdrittel gegenübergestellt. Bei der Auswertung gilt: Je sicherer und vorwärtsgerichter die Folgeaktionen des Spielers bzw. der Spielerin, desto höher und weiter rechts ist er im Diagramm wiederzufinden. In der Grafik unten werden die Werte der Top-Spieler aus der Bundesliga Saison 2019/2020 mit denen der U19-Nationalspieler in ihren U-Nationalmannschaftspartien verglichen.

Erkenntnisse:

  • Topspieler*innen werden vergleichsweise häufig angespielt, bei gleichzeitiger höherer Ballsicherheit
  • Darüber hinaus setzten sie das Spiel im Vergleich auch häufiger in die tiefe Spielrichtung fort

Daraus lassen sich zielsicher die Trainings- und Ausbildungsschwerpunkte zukünftiger Top-Mittelfeldspieler*innen ableiten. Dabei ist eine auf jeden Einzelnen ausgerichtete Praxis der Schlüssel für eine zukunftsorientierte Ausbildung spielstarker, technisch-taktisch versierter und kreativer Talente mit herausragenden individuellen Qualitäten.

Die 'Sechs' gestaltet das Spiel auf allen Ebenen mit. Ich war gut darin, das Spiel zu lesen, den Takt vorzugeben und mit Antizipation eine gute Position im Raum zu finden.
Nadine Keßler
Drucksituation in der Außenspur

Eine wiederkehrende Herausforderung ist die Drucksituation in der Außenspur, die aufmerksame "Sechser*innen" als zentrale Anspielstation auflösen und das Spiel mit einer passenden Anschlussaktion dynamisch verlagern bzw. in die Tiefe fortsetzen kann. Ein passendes Beispiel ist der Siegtreffer von der U 21 im EM-Endspiel gegen Portugal, bei dem Niklas Dorsch sich als "Drucklöser" verstanden hat, anspielbar war und den Angriff mit einer dynamischen Verlagerung entscheidend beschleunigt hat.

/
Spielkompetenzmodell als Basis

Fast jede erfolgreiche Aktion im Fußball ist das Produkt einer Prozesskette. Am Anfang steht die Wahrnehmung der Spielsituation. Die Spieler*innen müssen ihre Umgebung anhand der Positionen und Bewegungen der Mit- und Gegenspieler*innen sowie des Balles erfassen und analysieren. Im nächsten Schritt folgt die Entscheidung für eine Lösung, die sich aus individuellen Präferenzen und der jeweiligen Spielauffassung und -konzeption ergibt. Abschließend wird die getroffene Entscheidung motorisch umgesetzt, z. B. durch einen Pass oder ein Dribbling. Die Qualität der variablen Anwendung der Basistechniken bestimmt hierbei entscheidend die Dynamik und Präzision und letztlich den Erfolg der Aktion.

/

1. Wahnehmung

  • Spieler*in erkennt die Drucksituation in der Außenspur
  • Spieler*in erkennt, dass er/sie "Drucklöser*in" sein kann
  • Spieler*in "scannt" die Ballposition, eigene Position, Position der Gegenspieler*innen und Räume zu Spielfortsetzung
    1. Alaba passt zu Davies in die Außenspur, der bereits mit dem Zuspiel vom Gegenspieler angelaufen wird. Kimmich nimmt die Situation frühzeitig wahr und bietet sich in der ballnahen Halbspur an.

    2. Davies passt zu Kimmich, der mit Schulterblicken die eigene Position, die der Gegenspieler und der vorherrschenden Räume wahrnimmt.

    3. Kimmich nimmt nach vorne an und mit und 'scannt' die Situation für die nächste Spielfortsetzung. Dabei sieht er den freistehenden Sané auf der ballfernen Seite, den er mit einem präzisen Diagonalpass bedient.

​​​​​​2. Entscheidung

  • Spieler*in macht seine Positionierung von den Bezugspunkten (Ball, Gegner*innen, Mitspieler*innen) abhängig
  • Spieler*in entwickelt Fantasie für Fortsetzungsmöglichkeiten
  • Spieler*in antizipiert Lösungsmöglichkeiten in die tiefe Spielrichtung

Umsetzungsziel: Drucksituationen in der Außenspur über zentrale Mittelfeldspieler*in auflösen – dynamisch verlagern/fortsetzen

    1. Becker erhält ein Zuspiel in der Außenspur, wobei er mit dem Zuspiel bereits angelaufen wird. Serdar nimmt die Situation wahr und orientiert sich zum Mitspieler.

    2. Dabei blickt sich Serdar um und nimmt so seine Position in Relation zu allen Bezugspunkten wahr.

    3. Becker passt zu Serdar, der die Lösungsmöglichkeiten antizipiert und unter Druck des gegnerischen zentralen defensiven Mittelfeldspielers (ZDM) die beste Fortsetzung findet, ...

    4. ... indem er mit dem ersten Kontakt entgegen der Bewegungsrichtung des Gegenspielers an- und mitnimmt. So überwindet Serdar seinen Gegner und kann das Spiel mit einem Dribbling fortsetzen.

    5. Kurz bevor Serdar erneut unter Druck gerät, verlagert er das Spiel zum freistehenden Mitspieler in die Außenspur (nicht im Bild).

3. Umsetzung

Kein Kontakt

  • Körperfinte (Stemmschritt) täuscht Verhalten vor und überwindet Gegner*indruck

Ein Kontakt

  • Gegenspieler*in an sich heranrücken lassen und Druck überwinden durch weiträumige Ballmitnahme entgegen der Bewegungsrichtung des Gegenspielers bzw. der Gegenspielerin (Rhythmus- bzw. Tempowechsel)

Zwei Kontakte

  • Mit 1. Kontakt "totstoppen" und Gegner*in locken
  • In der Annäherungsphase des Gegenspielers bzw. der Gegenspielerin entgegen der Bewegungsrichtung mit zweiten Kontakt beschleunigen (Binden und überwinden)

Spielverlagerung

  • Information zur Möglichkeit der Spurenverlagerung bereits bewusst
  • Beidfüßigkeit erhöht die Umsetzungsgeschwindigkeit – Zwei-Kontakt-Spiel (li-re; re-li)
  • Schärfe und Präzision der Spurenverlagerung bereitet die Dynamik vor oder löst sie aus
    1. Nach einer Balleroberung ist Modrić in Ballbesitz, der umgehend unter Druck gerät. Kroos nimmt die Situation seines Mitspieler wahr und 'scannt' die Umgebung.

    2. Modrić passt zu Kroos, der mit dem Zuspiel vom ballnahen zentralen defensiven Mittelfeldspieler (ZDM) unter Druck gesetzt wird.

    3. Kroos nimmt die Situation jedoch frühzeitig wahr, stoppt den Ball 'tot' und lockt so den Gegner.

    4. Mit dem zweiten Kontakt beschleunigt Kroos entgegen der Bewegungsrichtung des ZDMs, überwindet diesen und setzt das Spiel mit einem Dribbling ins Angriffsdrittel fort. 

Durch Vororientierung das Spieltempo erhöhen

Training: Förderung von situativen Bestlösungen

Im Nachwuchsbereich ist es von immenser Bedeutung, den gesamten Prozess Wahrnehmen – Entscheiden – Umsetzen von Beginn an zu trainieren, wenn wir spielkompetente Spieler*innen ausbilden wollen. Je häufiger sie vor Aufgaben gestellt werden, in denen sie alle drei Teilbereiche ständig durchlaufen müssen, desto eher werden sie in komplexen Situationen auch unter Druck die beste  Lösung finden und umsetzen. 

    • Raum-, Zeit- und Gegnerdruck des Mitspielers wahrnehmen!
      Unter Berücksichtigung der Bezugspunkte eine sinnvolle Positionierung finden

    • Sich mit einer Idee für die Folgeaktion anspielbar machen!
      Fantasie entwickeln - Vorausdenken statt Nachdenken

    • Durch Tempowechsel oder Finten Gegner binden und/oder überwinden!
      Drucksituationen durch An- und Mitnahme lösen

    • Mit präzisem und scharfem Passspiel Dynamik auslösen!
      Spielgeschwindigkeit durch schnelle Raumüberbrückung erhöhen

    • Dynamik durch scharfe und präzise Verlagerung vorbereiten/einleiten!
      ​​​​​​​Passempfänger eine günstige Raum-, Zeit- und Gegenspielersituation verschaffen

Die Erfahrungen im Wettkampf anwenden