Spielanalyse

Sandro Tonali – der neue Andrea Pirlo?

Der junge Italiener zeigt auf der „Sechser“-Position großes fußballerisches Können

Sandro Tonali gibt im Dress der italienischen U 19-Nationalmannschaft Anweisungen © 2019 Matteo Gribaudi/Imago
  1. Christopher Toetz

    Christopher Toetz, Redakteur der DFB-Trainerzeitschrift „Fußballtraining“, analysiert Qualitätsmerkmale im internationalen Fußball.

Immer wieder kommt es vor, dass junge Talente mit aktuellen oder früheren Superstars verglichen werden - doch nur selten ist der Vergleich so treffend wie zwischen Sandro Tonali und Andrea Pirlo. Nicht nur aufgrund der Äußerlichkeiten, sondern auch Werdegang und Spielweise ähneln dem des einstigen Superstars. Trotz seines jungen Alters (Jahrgang 2000) ist er bereits der zentrale Spieler beim Serie-A-Aufsteiger Brescia Calcio. Dort debütierte er schon als 17-Jähriger und ist seit dem die prägende Figur.

Spielweise

Tonali ist fester Bestandteil einer Mittelfeldraute und bekleidet dort die Position des alleinigen „Sechsers“. Dort hat er regelmäßig die meisten Ballkontakte seines Teams und sein variables Passspiel ermöglicht es ihm, das Spiel von hinten anzukurbeln und so das Tempo und die Spielrichtung zu bestimmen. Durch seine klugen Positionierungen und sein permanentes Umblickverhalten kann er Spielzüge bereits planen, bevor ihn der Ball überhaupt erreicht hat. Seine Technik erlaubt es ihm, immer wieder direkte lange Pässe einzustreuen. Dies bringt oft einen entscheidenden Geschwindigkeitsvorteil für die lauernden Angreifer gegenüber der Abwehr, die noch in der Verschiebebewegung ist. Generell ist sein Passspiel wesentlich mutiger als das vieler anderer defensiver Mittelfeldspieler, die oftmals als „Durchlaufstation“ dienen. Dass Tonalis Passquote vergleichsweise selten über 90% liegt, ist aufgrund der vielen Risikopässe jedoch wenig überraschend.

    1. Okonkwo passt zu Tonali in die Zentrumsspur, der sich vorab einen Überblick verschafft und anschließend das Spiel mit einem Dribbling fortsetzt.

    2. Tonali blickt in die Tiefe und nimmt Bisoli wahr, der diagonal in die Tiefe läuft.

    3. Tonali passt im richtigen Moment zu Bisoli in den Rücken der Abwehr, ...

    4. ... der das Zuspiel erläuft und zum Führungstreffer verwertet.

    1. Tonali läuft in der Außenspur in die Tiefe und erhält einen Pass von Locatelli.

    2. Während der Ball noch in der Luft ist, verschafft sich Tonali einen Überblick. Gleichzeitig läuft Orsolini in die Tiefe.

    3. Tonali legt direkt auf Orsolini ab und setzt seinen Lauf fort.

    4. Ballbesitzer Orsolini passt unter Druck von zwei Gegenspielern zu Tonali, der „auf Lücke“ anspielbar ist.

    5. Anschließend schlägt Tonali eine präzise und in der Schärfe angemessene Flanke auf den einlaufenden Cutrone, der jedoch daneben köpft.

    1. Okonkwo verlagert das Spiel von der Außen- in die Zentrumsspur, wo Tonali (nicht im Bild) anspielbar ist.

    2. Tonali nutzt den Raum und dribbelt in Richtung gegnerisches Tor, woraufhin der gegnerische Innenverteidiger (IV) aus der Abwehr herausrückt und Tonali anläuft.

    3. Dadurch öffnet sich ein Raum in der gegnerischen Abwehrreihe, den Torregrossa bereits anläuft. Tonali erkennt die Situation und passt präzise in dessen Lauf.

    4. Torregrossa dribbelt in den Strafraum und kann den herauslaufenden Torwart (TW) überwinden.

Dribbling

Tonali verfügt ebenfalls über hervorragende Dribbelfertigkeiten, obwohl der Italiener mit seinem eher schwachen Antritt und der allgemein sehr ruhigen Spielweise nicht dem typischen Bild, das man gemeinhin mit einem Dribbler verbindet, entspricht. Neben seiner Fähigkeit, den Ball mit kleinen Haken oder Drehungen zu sichern, ist er trotz Geschwindigkeitsdefizit dazu in der Lage, gegnerische Linien zu überwinden. Rückt Tonali einmal auf, wirkt er sehr aggressiv und tororientiert. Dabei kann er auch unter Druck die Lücken des Gegners ausmachen und bespielen.

Gegen den Ball

In der Defensive überzeugt Tonali durch seine Positionierung und Antizipation, wodurch es ihm oftmals gelingt, Pässe abzufangen oder im richtigen Moment auf ein aktives Abwehrverhalten umzuschalten. Seine Zweikämpfe führt er mit einer gewissen Robustheit, durch die er sich jedoch auch schon einige gelbe Karten eingehandelt hat. Zudem neigt er gelegentlich dazu, unüberlegt und ohne Unterstützung von Mitspielern zum Ballführenden heranzurücken. Dadurch öffnet er Räume vor der Abwehr und destabilisiert den Defensivverbund seines Teams.

    1. Der gegnerische Außenverteidiger (AV) passt zum zentralen Mittelfeldspieler (ZM) in die Halbspur, woraufhin Tonali vorrückt.

    2. Dabei erkennt Tonali die schlechte An- und Mitnahme des ZMs. Tonali erhöht gedankenschnell sein Tempo ...

    3. ... und verwickelt den ZM in einen Pressschlag, den er auch gewinnt. Anschließend laufen sowohl Tonali als auch der gegnerische Innenverteidiger (IV) zum freien Ball.

    4. Dort kommt es zu einem Pressschlag mit dem Innenverteidiger, den Tonali erneut gewinnt. Tonali sammelt den losen Ball auf und setzt das Spiel mit einem Dribbling fort.

    1. Der gegnerische zentrale offensive Mittelfeldspieler (ZOM) erhält ein Zuspiel, woraufhin Tonali herausrückt.

    2. Aufgrund des Gegnerdrucks dribbelt der ZOM nach hinten. Tonali erhöht sein Tempo, schiebt an den Ballführenden heran ...

    3. ... und spitzelt den Ball weg. Anschließend läuft er zum freien Ball und dribbelt in Richtung Mittellinie, ...

    4. ... wo er zunächst einen Gegenspieler ausspielen muss, ehe er den Ball vollständig sichern kann.

Ruhende Bälle

Ein weiteres Qualitätsmerkmal von Tonali sind seine Standards. Dabei ist er nicht auf eine bestimmte Entfernung festgelegt. Er kann Freistöße aus 30 Metern mit viel Kraft treten und dabei genauso präzise platzieren wie aus zum Beispiel 18 Metern. Seine Ecken sowie direkten und indirekten Freistöße sind keinesfalls spektakulär, dafür jedoch effektiv und konstant. So konnte er in der abgelaufenen Saison als etatmäßiger Schütze zahlreiche Torchancen kreieren.

Fazit

Tonali zeichnet sich durch für sein Alter untypische Qualitäten aus. Er agiert sehr ruhig mit dem Ball, hat stets den ganzen Platz im Blick und ist in der Lage, das Tempo und die Dynamik des Spiels jederzeit zu verändern. Darüber hinaus sind seine Standards extrem torgefährlich.

Ich möchte eine Mischung aus der Klasse von Pirlo und der Boshaftigkeit von Gennaro Gattuso sein.
Sandro Tonali, Spieler Brescia Calcio

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