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Aus Einwürfen mehr Kapital schlagen

Wie die Standardsituation taktisch stärker genutzt werden sollte

Taktik & Spielanalyse
Der Einwurf ist die häufigste Standardsituation im Fußball. Als Baustein der Mannschaftstaktik wird er jedoch häufig unterschätzt und sollte gezielt trainiert werden.
    • Bei 54% der Einwürfe blieb die einwerfende Mannschaft im Ballbesitz.
    • Erhöhtes Pressing der verteidigenden Mannschaft führt zu mehr Balleroberungen. Insgesamt gelang das aber in nur 29% der Fälle.
    • 60% der Einwürfe wurden nach vorn gespielt, 40% nach hinten.
    • Zurückliegende Teams erhöhen den Druck auf den Gegner während des Einwurfs.
    • Im letzten Viertel des Spiels konnte kein erhöhtes Pressing festgestellt werden.
Abstract

Der Einwurf ist die häufigste Standardsituation im Fußball. Als Baustein der Mannschaftstaktik wird er jedoch häufig unterschätzt und sollte gezielt trainiert werden. Zu diesem Ergebnis kommt eine videobasierte Spielanalyse, die 265 Einwürfe aus der Bundesliga-Saison 2019/20 untersucht hat. Sie zeigt: Die einwerfende Mannschaft bleibt in mehr als der Hälfte (54%) der Einwürfe in Ballbesitz. In nur 29% der Fälle gelang es der verteidigenden Mannschaft, den Ball nach einem gegnerischen Einwurf zurückzugewinnen.

Der Einwurf: Eine unterschätzte Standardsituation?

Der Einwurf ist eine klassische Standardsituation im Fußball. Durchschnittlich gibt es im Profibereich etwa 45 Einwürfe pro Pflichtspiel [1]. Obwohl er häufig vorkommt, spielt der Einwurf im Training meist eine untergeordnete Rolle. Zu Unrecht, meinen inzwischen einige Klubs. Vereine, wie Mainz 05 oder die Fußballerinnen von Eintracht Frankfurt, setzen auf die Analyse und das Training von Einwürfen. FC Liverpool-Trainer Jürgen Klopp hat 2008 sogar den Dänen Thomas Grønnemark als Einwurf-Trainer verpflichtet. Denn die taktische Nutzung dieser Standardsituation ist eine spezielle Herausforderung. Nicht nur, weil sich die ballführende Mannschaft beim Einwurf in Unterzahl befindet. Auch sind die Richtungen, in die der Ball gespielt werden kann, durch die Auslinien des Spielfeldes begrenzt. Zudem limitiert die maximale Wurfweite den Raum, der bespielt werden kann. Für den Gegner bietet sich dadurch eine ideale Möglichkeit zum Pressing. Meist wurde der Einwurf taktisch darauf reduziert, das Spiel zu verzögern [1, 2]. Doch wie viel Potenzial steckt darüber hinaus in dieser Standardsituation? Macht sich ein gezieltes Einwurf-Training beispielsweise als Baustein der Mannschaftstaktik bezahlt, um Kontersituationen nach Rückeroberung des Balls zu provozieren?

Einwürfe in Bundesliga-Spielen der Saison 2019/2020 ausgewertet

Dieser Frage ist eine videobasierte Studie nachgegangen. Beleuchtet wurde, inwieweit gegnerische Einwürfe derzeit in Bundesliga-Spielen taktisch genutzt werden, um den Ball zurückzuerobern. Dafür wurden insgesamt 265 Einwurf-Situationen aus 85 fünfminütigen Spielsequenzen aus den Spielen der Hinrunde der Bundesliga-Saison 2019/2020 untersucht. Im Fokus der Forscher standen mehrere Faktoren: die Spielfeldzone (Abwehr-, Mittelfeld und Angriffsdrittel), die Richtung des Einwurfs, der Spielstand, die Spielzeit (1.-75. versus 76.-90. Spielminute) sowie der vom Gegner ausgeübte Druck und die Folgen des Einwurfs in der Fortsetzung des Spiels. Weil jede Mannschaft im Verlauf der Studie mehrfach bei Spielen gegen unterschiedliche Gegner beobachtet wurde, seien die Erkenntnisse repräsentativ für die Bundesliga, erklären die Autoren. Auf den Amateurfußball, in dem das physische Leistungsniveau der Spieler niedriger ist, sind die Ergebnisse allerdings nicht zwingend übertragbar.

Ergebnisse

In mehr als der Hälfte der untersuchten Spielsequenzen gelang es der verteidigenden Mannschaft nicht, den Ball nach der Standardsituation zurückzuerobern oder zumindest eine chaotische Situation zu provozieren (vgl. TAB 01). In 54% der Einwürfe blieb die einwerfende Mannschaft im Ballbesitz und in 17% der Fälle führte der Einwurf zu Spielsituationen, in denen der Ballbesitz keiner Mannschaft direkt zugeordnet werden konnte („Chaos“). In weniger als 3 von 10 Fällen (29%) gelang es der verteidigenden Mannschaft, den Ball zurückzugewinnen. Somit hätten gegnerische Einwürfe großes Potenzial, Ballgewinne durch hohen Druck zu erzeugen und anschließende Umschaltaktionen zu nutzen, schlussfolgern die Autoren.

Von den 265 Einwurf-Situationen wurde der Einwurf, aus Sicht der verteidigenden Mannschaft, in rund 60% der Fälle nach vorne ausgeführt. Aus Sicht der einwerfenden Mannschaft bedeutet das, dass weniger Bälle in Angriffsrichtung geworfen wurden als in Richtung des eigenen Tores. Betrachtet man die Einwürfe entsprechend der Spielfeldzone, in welcher sie ausgeführt wurden, waren die gegnerischen Einwürfe im eigenen Abwehrdrittel (Zone 1, TAB. 01) nahezu genauso oft vorwärts- wie rückwärtsgerichtet. Das zeige, dass in der Nähe der gegnerischen Grundlinie ein, aus Sicht des Einwerfenden, nach-vorn-ausgeführter Einwurf oft keine sinnvolle Spielfortsetzung mehr zulässt, erklären die Autoren. Im Mittelfeld (Zone 2, TAB. 01) sowie im Angriffsdrittel (Zone 3, TAB. 01), wurden die Einwürfe in etwa 2 von 3 Fällen nach vorne (d. h. in Richtung des eigenen Tores der angreifenden Mannschaft) geworfen. 

Dabei übte die verteidigende Mannschaft im eigenen Angriffsdrittel (Zone 3, TAB. 01) meistens einen hohen Gegnerdruck aus. Gewann eine Mannschaft den Ball nach einem gegnerischen Einwurf zurück, führte dies in 36% der Fälle zu einem Konterangriff, bzw. resultierte in 40% der untersuchten Situationen in einer „Toten-Ball-Situation“ (wie etwa einem weiteren Einwurf). Speziell im eigenen Abwehrdrittel traten diese Situationen besonders häufig auf (54,8%) und es kam relativ selten (6,5%) zu einem geordneten Spielaufbau. Das erscheint logisch, da diese Situationen für den Gegner natürlich einen idealen Moment darstellen, ins Gegenpressing zu gehen. Dementsprechend waren verteidigende Mannschaften nach Ballgewinn in dieser Spielfeldzone vermehrt (in 38,7% der Fälle) bestrebt, einen direkten Konterangriff gegen einen weit aufgerückten Gegner zu starten. Gerade aus dieser Konstellation resultiert nachweislich ein erhöhtes Potenzial zum Kreieren eigener Torchancen [3, 4]. „Tatsächlich konnten wir zeigen, dass ein höherer Druck die Chance, den Ball zurückzuerobern, deutlich erhöht“, schreiben die Autoren. Allerdings ist dafür eine hohe Laufleistung der gesamten Mannschaft erforderlich, da genügend Spieler in den Einwurfbereich gelangen müssen, um Überzahlsituationen zu erzeugen. Interessanterweise war der ausgeübte Druck bei Mannschaften im Rück- und Gleichstand in den letzten 15 Spielminuten bei Einwürfen fast identisch mit dem Druck in den ersten 75 Minuten. Führende Mannschaften übten in den letzten 15 Minuten tendenziell sogar weniger Druck beim Einwurf aus als bis zur 75. Minute. Grund dafür könnte sein, dass es in diesem Moment wichtiger ist, kompakt zu stehen und das Zentrum zu sichern, als viel Risiko einzugehen und den Gegner an der Seitenlinie unter Druck zu setzen.

Fazit: Einwürfe als taktisches Mittel gezielt trainieren

Die Studienerkenntnisse legen nahe, Einwürfe stärker im Training zu berücksichtigen. Gegnerische Einwürfe eignen sich gut dazu, mannschaftstaktisches Pressing zu spielen und den Gegner zu stören, um so Ballgewinne einzuleiten. Dafür spricht auch, dass die Anzahl der Einwürfe im Wettkampf relativ hoch ist [1]. Daher sollte die Standardsituation in bestimmten Spielsituationen oder in entscheidenden Spielphasen gezielter genutzt werden.

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Die Inhalte basieren auf der Studie “Tactical actions during opponent throw-ins in soccer in the German Bundesliga”, die 2021 im “Journal of Physical Education and Sport” veröffentlicht wurde.

Literatur

  1. Augste, C., & Prestel, C. (2021): Tactical actions during opponent throw-ins in soccer in the German Bundesliga. Journal of Physical Education and Sport, 21(4), 1846-1852.
    Studie lesen
    1. Augste, C., & Cordes, O. (2016). Game stoppages as a tactical means in soccer - a comparison of the FIFA World Cups (TM) 2006 and 2014. International Journal of Performance Analysis in Sport, 16(3), 1053-1064.

    2. Greve, H. R, Rudi, N., & Walvekar, A. (2019). Strategic rule breaking: Time wasting to win soccer games. PLoS ONE, 14(12), e0224150.

    3. González-Rodenas, J., Aranda-Malaves, R., Tudela-Desantes, A., Nieto, F., Usó, F., & Aranda, R. (2020). Playing tactics, contextual variables and offensive effectiveness in English Premier League soccer matches. A multilevel analysis. PloS ONE, 15(2), e0226978.

    4. Lago-Ballesteros, J., Lago-Peñas, C., & Rey, E. (2012). The effect of playing tactics and situational variables on achieving score-box possessions in a professional soccer team. Journal of sports sciences, 30(14), 1455-1461.