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„Evolution“ des offensiven Umschaltspiels?

Vergleich der UEFA Euro 2008 und 2016 deutet eine Entwicklung zum progressiven offensiven Umschalten an.

Taktik & Spielanalyse
Ein Vergleich der UEFA Euro 2008 und 2016 deutet eine Entwicklung zum progressiven offensiven Umschalten an.
    • Während der UEFA Euro 2016 gab es mehr offensive Umschaltsituationen als bei der UEFA Euro 2008.
    • Die Startzone des offensiven Umschaltens hat sich vom defensiven Mittelfeldbereich (2008) in Richtung Spielfeldzentrum (2016) verschoben.
    • Die Teams der UEFA Euro 2016 schalteten im Durchschnitt mit direkterem Zug zum gegnerischen Tor um und nahmen für eine verstärkte Offensive auch eine geringere defensive Absicherung in Kauf. 
    • Die offensiven Umschaltaktionen während der UEFA Euro 2016 waren von größerem Erfolg gekrönt. 
    • Insgesamt verdeutlicht der Vergleich der beiden Europameisterschaften eine Entwicklung hin zu einem progressiveren offensiven Umschaltspiel.
Abstract

Das offensive Umschalten nach Ballgewinn ist nach Ansicht vieler Trainer und Sportwissenschaftler einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren im Fußball. Das Umschaltspiel von Defensive auf Offensive kann ganz unterschiedlich ausgestaltet sein: Vom eher konservativen Umschalten, das zunächst auf Ballsicherung bedacht ist, bis zum direkten Vorstoß aufs gegnerische Tor stehen den Mannschaften bei Balleroberung viele Möglichkeiten offen. Spanische Forscher haben die Umschaltaktionen während der UEFA Europameisterschaften 2008 und 2016 analysiert und miteinander verglichen. Dabei kommen sie zu dem Schluss, dass sich das offensive Umschaltspiel über die acht Jahre hinweg entwickelt hat – und die „neuere“ Version größeren Erfolg verspricht.

Schlüsselfaktor Umschaltspiel

Das Umschaltspiel nach Ballgewinn gehört zweifellos zu den Schlüsselmomenten im Fußball. Gerade in Zeiten, in denen defensive Taktiken die Spielweisen vieler Teams bestimmen, kommt dem offensiven Umschalten als einer der spielentscheidenden Faktoren besondere Bedeutung zu. 

Unter offensivem Umschalten versteht man alle Aktionen, die ein Team direkt nach Ballgewinn im Spiel durchführt. Im Moment der Balleroberung kann die Mannschaft sich für einen kurzen Zeitraum einen Vorteil verschaffen, indem sie (z. B. durch einen direkten Konter) die Unordnung des Gegners während der defensiven Reorganisation ausnutzt. Die Mannschaft mit Ballgewinn muss sich nicht für den direkten Vorstoß in Richtung des gegnerischen Tores entscheiden, sondern kann genauso darauf bedacht sein, den Ball in den eigenen Reihen zu sichern. Die Phase des offensiven Umschaltens ist abgeschlossen, sobald die Mannschaft die Phase des organisierten Angriffsspiels erreicht oder der Gegner sich defensiv organisiert hat [1].

Schon vor dem Umschalten schalten

Es ist wichtig, sich stets klar zu machen, dass bei einem Fußballspiel kontinuierliche, zyklische und nicht lineare Prozesse ablaufen. Angriff, Verteidigung und Umschaltmomente bestehen nicht getrennt voneinander, sondern sind stets im Fluss und bedingen sich gegenseitig. Das defensive Spielmoment beginnt immer schon vor dem Ballverlust - genauso wie offensive Aktionen bereits vor dem eigenen Ballgewinn starten. Jedes offensive Umschaltspiel ruft beim gegnerischen Team ein defensives Umschalten als antagonistische Antwort hervor. Darum sollten die Spieler das taktische Verhalten des Gegners gut kennen und den eigenen strategischen Spielraum stets vordenken [2, 3].

Was macht ein erfolgreiches Umschaltspiel aus?

Diverse Studien bestätigen, dass besonders schnell ausgeführte Angriffe beim offensiven Umschaltspiel größere Erfolgschancen aufweisen als andere Angriffsstile. Das Umschalten in Form von Schnellangriffen oder Konterattacken führten zu häufigerem Vordringen bis in den Sechzehnmeterraum, zu mehr Torabschlüssen und entsprechend mehr erzielten Toren [4, 5].

Geht man weiter ins Detail, lassen sich anhand früherer Studien einige Faktoren identifizieren, die die Effektivität des offensiven Umschaltens mitbestimmen: 

  • Startzone des offensiven Umschaltens
    Je näher zum gegnerischen Tor das Umschalten stattfindet, desto höher die Effektivität des Angriffs [4, 6].

  • Ablaufstrategie
    Die meisten Autoren kommen zu dem Schluss, dass das schnelle und direkte Vorstoßen in Richtung des gegnerischen Tores nach Ballgewinn erfolgversprechender ist als die Strategie, den Ball zunächst zu sichern [1, 4, 7].

  • Passabfolge
    Die effektivsten offensiven Umschaltphasen bestehen aus einer eher geringen Anzahl von Pässen (≤ 4), ist die Mehrheit der Studienautoren überzeugt [6, 8, 9].

  • Umschaltdauer
    Es herrscht generell Konsens in der Literatur, dass die erfolgreichsten Umschaltsituationen bei sehr hoher Geschwindigkeit in einem Zeitfenster von 1 bis 5 und maximal 15 Sekunden durchgeführt sein sollten [9, 10, 11, 12].

Alle Forschungsarbeiten bestätigen die besondere Bedeutung des offensiven Umschaltens im Fußballspiel. Während die meisten dieser Studien quantitativ-deskriptiver Natur sind und größtenteils über Bewegungsanalysen zu ihren Ergebnissen gelangen, erweitern Maneiro et al. die quantitative um eine qualitative Analyse. Die Forscher versprechen sich durch diesen „Methodenmix“ ein objektiveres, umfassenderes Bild des offensiven Umschaltspiels.   

Umschaltaktionen im Vergleich 

Im Vordergrund der Forschungsarbeit von Rubén Maneiro und Kollegen steht ein Vergleich der Umschaltaktionen während der UEFA Europameisterschaften 2008 und 2016. Die Forscher ermittelten, ob sich zwischen den beiden Europameisterschaften generelle Unterschiede im Umschaltspiel finden lassen und ob ein bestimmtes Umschaltverhalten größeren Erfolg verspricht.

Die Forscher beobachteten und analysierten insgesamt 1 533 offensive Umschaltsituationen aller Viertelfinal-, Halbfinal- und Finalspiele der UEFA Europameisterschaften von 2008 und 2016 (14 Spiele). Erstes Ergebnis: Die Umschaltaktionen während der beiden Europameisterschaften unterschieden sich merklich voneinander. Im Vergleich zur UEFA Euro 2008 gab es während der UEFA Euro 2016 deutlich mehr Umschaltsituationen. 

Raum für offen-offensives Spiel

Der Anstieg könnte laut Maneiro und Kollegen ein Hinweis auf einen Trend sein - hin zu sich öffnenden offensiven Spieldynamiken. Es deute sich eine Entwicklung an, in der sich das Angriffsspiel insgesamt weitere Räume erschließt, es aber in einem kleineren Zeitfenster durchgeführt wird. Dieser Trend würde detailliert ausgearbeitete Angriffsmechanismen benachteiligen, die in der Regel auf eine hohe Defensivdichte treffen, was das Schaffen von Überlegenheitssituationen häufig verhindert [vgl. 10]. Gleichzeitig könnten Teams, die nach „neuerem“ Umschaltmuster agieren, Vorteile daraus ziehen, dass sich beim Gegner durch den Rollenwechsel Unsicherheitsmomente und Stress ergeben. 

Wer früher umschaltet, ist schneller am Ziel 

Die Analyse verschiedener Variablen brachte einige interessante Ergebnisse hervor: So hat sich die Zone, in der die Umschaltphase beginnt, über die Jahre hinweg vom defensiven Mittelfeldbereich in die Zentrale des Spielfeldes verschoben. Darüber hinaus gab es zur Euromeisterschaft von 2016 im Vergleich zur UEFA Euro 2008 deutlich mehr Balleroberungen und Umschaltaktionen im mittleren offensiven Bereich. Dieser Befund könnte den Forschern zufolge auf eine verbesserte technische und taktische Trainingsausrichtung zurückzuführen sein, die auf dem Wissen basiert, dass der optimale Balleroberungsbereich die offensive Mittelfeldzone mit Schwerpunkt auf Regionen nahe dem gegnerischen Tor ist [4, 13]. Balleroberungen in dieser Zone treffen in der Regel auf größere Unsicherheiten und schlechtere Organisation des Gegners. Balleroberungen in der Nähe des gegnerischen Tores bedeuten häufig natürlich auch, dass das angreifende Team nur noch eine Defensivlinie überwinden muss. 

Offensive geht vor

Auch hinsichtlich der defensiven Organisationsmechanismen zum Zeitpunkt des offensiven Umschaltens zeigte sich im Vergleich der beiden Europameisterschaften eine Entwicklung: Bei den Umschaltmomenten während der UEFA Euro 2016 wurde geringerer Wert auf eine defensiv organisierte Absicherung gelegt, das heißt, die offensiv umschaltenden Teams nahmen häufiger eine flexiblere und damit etwas unsicherere eigene Defensivordnung in Kauf, um die offensiven Möglichkeiten (weitere Räume und eine größere Anzahl an Spielern in Angriffspositionen) zu stärken. 

Ohne Umschweife zum Erfolg

Entsprechend dieses Befundes zeigte sich beim Faktor „Taktische Intention“ ein ähnlicher Trend: Während die Mannschaften in der 2008er Ausgabe der Europameisterschaft bei Ballgewinn größtenteils eine Balance zwischen Angriffsverhalten und Ballsicherung herzustellen versuchten, bemerkten die Forscher bei den meisten Teams der UEFA Euro 2016 den deutlichen Drang, direkt in Richtung des gegnerischen Tores vorzustoßen. Dieser verstärkte Offensivwillen der Teams aus der UEFA Euro 2016 äußerte sich darüber hinaus durch den Faktor „Abschließender Interaktionskontext“, der anzeigt, in welcher Zone des Spielfeldes das offensive Umschalten endet. 2016 wurden deutlich mehr Umschaltphasen in offensiven Regionen und weniger in Mittelfeldbereichen abgeschlossen als dies 2008 der Fall war. 

Die „Erfolgsquote“ gibt den offensiver agierenden Umschaltern der UEFA Euro 2016 gewissermaßen Recht. Denn die Faktoren für „Erfolg“ [nach 1] korrelierten 2016 deutlich stärker mit offensiven Umschaltaktionen als 2008. Und die verfügbaren Daten verrieten den Forschern, dass Teams, die beim defensiv-offensiven Umschalten zielstrebig nach vorne agierten und direkter den Abschluss suchten, erfolgreicher abschnitten als Teams, die eher auf Ballsicherung bedacht waren.

Entwicklung zum progressiven Umschalten

In ihrem Fazit betonen Maneiro und Kollegen die gestalterische Wandelbarkeit des Fußballspiels. Fußball sei keinesfalls ein Sport, der regelmäßige und starre Verhaltensweisen hervorruft, sondern sich seit jeher wie ein lebendiger Organismus verhalte, der sich über die Zeit wandelt und entwickelt. In diesem Sinne sehen die Forscher zwischen 2008 und 2016 eine Art Evolution bestätigt. Der Vergleich der offensiven Umschaltaktionen während der finalen Spiele der UEFA Euro 2008 und 2016 verdeutliche eine Entwicklung weg von „konservativem“ Verhalten nach Ballgewinn hin zu einem offensiv-progressiven Umschaltverhalten. In der 2016er Ausgabe der Europameisterschaft habe es nicht nur häufiger offensive Umschaltmomente gegeben, die offensiven Umschaltaktionen seien 2016 auch insgesamt effektiver und erfolgreicher gewesen. 

Die Inhalte basieren auf der Studie „Offensive Transitions in high-performance football: Differences between UEFA Euro 2008 and UEFA Euro 2016“, die 2019 in „Frontiers in Psychology" veröffentlicht wurde.

Literatur

  1. Maneiro, R., Casal, C. A., Álvarez, I., Moral, J. E., López, S., Ardá, A., & Losada, J. L. (2019). Offensive transitions in high-performance football: Differences between UEFA Euro 2008 and UEFA Euro 2016. Frontiers in Psychology, 10, 1230.
    Studie lesen
    1. Casal, C. A., Losada, J. L., & Ardá, A. (2015). Análisis de los factores de rendimiento de las transiciones ofensivas en el fútbol de alto nivel. Revista de Psicologia del Deporte 24, 103-110.

    2. Vogelbein, M., Nopp, S., & Hökelmann, A. (2014). Defensive transition in soccer – are prompt possession regains a measure of success? A quantitative analysis of German Fußball-Bundesliga 2010/2011. Journal of Sports Sciences 32, 1076-1083

    3. Casal, C. A., Andujar, M. Á., Losada, J. L., Ardá, T., & Maneiro, R. (2016). Identification of defensive performance factors in the 2010 FIFA World Cup South Africa. Sports 4:E54.

    4. Tenga, A., Holme, I., Ronglan, L. T., & Bahr, R. (2010a). Effect of playing tactics on achieving score-box possessions in a random series of team possessions from Norwegian professional soccer matches. Journal of Sports Sciences 28, 245-255.

    5. Barreira, D., Garganta, J., Pinto, T., Valente, J., & Anguera, T. (2013). “Do attacking game patterns differ between first and second halves of soccer matches in the 2010 FIFA World Cup?,” in Proceedings of the Seventh World Congress on Science and Football, Routledge, 193.

    6. Lago, J., Lago, C., Rey, E., Casáis, L., & Domínguez, E. (2012). El éxito ofensivo en el fútbol de élite: influencia de los modelos tácticos empleados y de las variables situacionales. European Journal of Human Movement. 145-170.

    7. Zurloni, V., Cavalera, C., Diana, B., Elia, M., & Jonsson, G. (2014). Detecting regularities in soccer dynamics: a T-pattern approach. Revista de Psicologia del Deporte 23, 157-164.

    8. Mombaerts, E. (2000). Fútbol. Del Análisis del Juego a la Formación del Jugador. Barcelona: INDE.

    9. Acar, M. F., Yapicioglu, B., Arikan, N., Yalcin, S., Ates, N., & Ergun, M. (2009). Analysis of goals scored in the 2006 world cup. In T. Reilly and F. Korkusuz (Eds.) Proceedings of the 6th World Congress on Science and Football, Science and Football VI (pp. 233-242)., Routledge.

    10. Wallace, J. L., & Norton, K. I. (2014). Evolution of World Cup soccer final games 1966-2010: Game structure, speed and play patterns. Journal of Science and Medicine in Sport 17, 223-228.

    11. Gréhaigne, J. (2001). Fútbol. La organización del Juego en el Fútbol. Zaragoza: INDE.

    12. Garganta, J., Maia, J., & Basto, F. (1997). Analysis of goal-scoring patterns in european top level soccer teams. In T. Reilly, J. Bangsbo, & M. Hugues (Eds.). Science and Football III (pp. 246-250)., E & F.N. Spon).

    13. Barreira, D., Garganta, J., Guimarães, P., Machado, J., & Anguera, M. T. (2014b). Ball recovery patterns as a performance indicator in elite soccer. Journal of Sports Engineering and Technology 228, 61-72.