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Bewegungsmangel im Kindes- und Jugendalter

Längsschnittstudie untersucht, ab wann die körperliche Aktivität im Kindes- und Jugendalter abnimmt

Bewegungsanalyse & Biomechanik
Talententwicklung
Alexander Nouri beobachtet eine Teilnehmergruppe während des athletes DFB Elite Youth Soccer Camps in Fort Lauderdale, Florida.
    • Die Annahme, dass körperliche Aktivität erst im Jugendalter deutlich absinkt, ist nicht mit verlässlichen Beweisen gestützt.
    • Körperliche Aktivität reduziert sich bei Jungen und Mädchen bereits ab dem Alter von etwa sechs bis sieben Jahren.
    • Der Rückgang der körperlichen Aktivität ist nicht für alle Testpersonen einheitlich. Eine kleine Teilgruppe (ca. 20 % der Jungen) hielten ihr Aktivitätsniveau konstant hoch.
    • Welche biologischen Faktoren und welche Umwelteinflüsse für den einsetzenden Bewegungsmangel verantwortlich sind, bleibt zunächst ungeklärt.
Abstract

Anhand einer Längsschnittstudie mit Kindern und Jugendlichen aus Nordostengland (N=545) haben Forscher untersucht, ab welchem Alter körperliche Aktivität abnimmt. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass sich Kinder ab dem Alter des Schuleintritts weniger bewegen. Das trifft sowohl auf Mädchen als auch auf Jungen zu. Die Untersuchung widerlegt die weit verbreitete Lehrmeinung, körperliche Aktivität reduziere sich erst ab der Pubertät, vor allem bei Mädchen und jungen Frauen. Die Autoren der Originalstudie fordern, gesundheitspolitische Maßnahmen an die aktuelle evidenzbasierte Forschung anzupassen und vor allem für Kinder ab dem sechsten bis siebten Lebensjahr weitere Bewegungsangebote zu schaffen.

PlayStation statt bolzen

Als Kind beginnen wir die Welt durch Bewegung zu entdecken. Körperliche Aktivität trägt unbestritten zu einer gesunden Entwicklung von Kindern und Jugendlichen bei [1,2]. Der Bewegungsdrang junger Menschen nimmt allerdings nach und nach ab. Kinder – und auch Erwachsene – von heute bewegen sich im Vergleich zu vergangenen Jahrzehnten deutlich weniger [3]. Eine zunehmend technisierte und medial durchdrungene Umwelt sowie eine wachsende Urbanisierung sind einige Gründe dafür, dass die Gesellschaft immer sesshafter und weniger aktiv wird.Ralf Rangnick, der Trainer und Sportdirektor von RB Leipzig (Saison 18/19) sagte in einem Interview, „Es gibt genügend Bolz- und Fußballplätze, nur bolzt da keiner mehr. Es fehlt an Kindern, die rausgehen auf die Straße und kicken wollen“.
Bestätigt ist, dass der Anteil an übergewichtigen und fettleibigen Kindern und Jugendlichen angestiegen ist – was wiederum zu weiterer Inaktivität führt [4]. Auch individuell betrachtet verringert sich die körperliche Aktivität eines Menschen im Laufe des Lebens. Nach einer bewegungsreichen Kleinkindphase nimmt die körperliche Aktivität ab dem Kindes- und Jugendalter merklich ab. Doch wann genau kommt es zu diesem Abfall im Aktivitätsniveau? Dieser Frage hat sich nun ein Forscherteam aus England angenommen.

Kindheit, Pubertät, Jugend – wann werden wir inaktiver?

Lange Zeit galt die vorherrschende Lehrmeinung, dass das Niveau der körperlichen Aktivität im Kindesalter noch relativ stabil ist und es erst im Jugendalter zu einem deutlicheren Rückgang an Bewegung kommt, der bei Mädchen ausgeprägter sei als bei Jungen [5,6]. Diese Studien beruhen allerdings vielfach auf subjektiven Erfahrungswerten. Neuere Studien, die objektive Messverfahren wie die Akzelerometrie (Messverfahren zur Erfassung körperlicher Aktivität durch Beschleunigungssensoren) verwenden, deuten auf einen früheren Aktivitätsrückgang hin. Nach den Daten der sogenannten International Children’s Accelerometry Database (ICAD) reduziert sich die körperliche Aktivität bei beiden Geschlechtern um den Zeitpunkt des Schuleintritts herum [7].

Messbarer Beginn des Bewegungsmangels

Um den Beginn des Bewegungsmangels genauer einzugrenzen, analysierte das Forscherteam um Mohammed A. Farooq Bewegungsdaten eines Geburtenjahrgangs (1999/2000), der aus dem Nordosten Englands stammt [8]. Mit Hilfe eines Beschleunigungssensors wurde die körperliche Aktivität von über 500 Teilnehmern zu vier verschiedenen Zeitpunkten (7, 9, 12 und 15 Jahre) im Kindes- und Jugendalter erfasst. Je nach Intensität der Bewegung wurde „leichte körperliche Aktivität“ von körperlicher Aktivität im mittleren bis intensiven Bereich („moderate-to-vigorous intensity physical activity“, MVPA) unterschieden.

Im Alter von 7 Jahren zeigten Mädchen und Jungen, im Vergleich zu den anderen Testzeitpunkten, eine höhere Gesamtaktivität.
Schon im Schuleintrittsalter geht’s abwärts

Die Auswertung der Daten der nordenglischen Bevölkerungsgruppe stützt die These der International Children’s Accelerometry Database: Der Rückgang der körperlichen Aktivität beginnt sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen schon ab dem Alter des Schuleintritts (6-7 Jahre) und nicht erst wie oftmals angenommen mit der Pubertät (s. Abb. 01). Jedoch zeigten nicht alle Kinder und Jugendlichen ein solches Verhalten. Betrachtet man den MVPA, einen Wert, der sich auf mittelstarke bis intensive körperliche Aktivität bezieht, blieben für ca. 20 % der männlichen Teilnehmer die Werte über den achtjährigen Messzeitraum auf relativ hohem Niveau stabil. Warum der Verlauf bei dieser Teilgruppe vom Gesamtverlauf abweicht, sei unklar, könne aber ein wichtiger Ansatzpunkt für zukünftige Gesundheitsforschung darstellen.

Bewegung in die Gesundheitspolitik bringen

Nach Ansicht der Autoren belegen die Studienergebnisse, dass die derzeit praktizierte Gesundheitspolitik in Großbritannien und vielen anderen Ländern veralteten Ansichten nachhängt und evidenzbasierten Maßstäben nicht standhält. Zukünftige Forschung und Gesundheitspolitik müssten mit der althergebrachten Lehrmeinung aufräumen, der zufolge erst ab der Pubertät und vor allem bei Mädchen bzw. jungen Frauen ein markanter Aktivitätsabfall stattfinde. Stattdessen sei es angeraten, den Fokus der Gesundheitspolitik bei beiden Geschlechtern schon auf das Kindesalter zu richten und verstärkt Sportangebote sowie Bewegungsprogramme anzubieten. In Übereinstimmung mit den Ergebnissen der analysierten Studie, wurde in einer weiteren wissenschaftlichen Untersuchung in England festgestellt, dass die Auftrittshäufigkeit von Fettleibigkeit bei Kindern um das Alter von sieben Jahren ihren Höhepunkt erreicht [9].

Nächster Forschungsfokus: das „Warum“

Die Studienautoren geben zu bedenken, dass weitere Untersuchungen klären müssten, inwiefern sich die Ergebnisse der nordostenglischen Bevölkerung auf andere Länder und Populationen mit anderen körperlichen, sozioökonomischen und politischen Vorzeichen übertragen lassen. Die Wissenschaftler hätten in ihrer Studie zudem nur Antworten auf das „Wann“ geben können. Die Frage, warum Kinder ab etwa sechs Jahren körperlich inaktiver werden, müsse zukünftig stärker in den Forschungsfokus rücken. Denn noch sei das komplexe Zusammenspiel aus biologischen Faktoren und Umwelteinflüssen, das zu dem Rückgang an Aktivität führt, wenig verstanden.

Die Inhalte basieren auf der Originalstudie "Timing of the decline in physical activity in childhood and adolescence: Gateshead Millennium Cohort Study.", die 2018 im „British Journal of Sports Medicine" veröffentlicht wurde.

Literatur

  1. Farooq, M. A., Parkinson, K. N., Adamson, A. J., Pearce, M. S., Reilly, J. K., Hughes, A. R., ... & Reilly, J. J. (2018). Timing of the decline in physical activity in childhood and adolescence: Gateshead Millennium Cohort Study. Br J Sports Med, 52(15), 1002-1006.
    Studie lesen
    1. Janssen I, Leblanc AG. Systematic review of the health benefits of physical activity and fitness in school-aged children and youth. Int J Behav Nutr Phys Act 2010;7:40.

    2. Timmons BW, Leblanc AG, Carson V, et al. Systematic review of physical activity and health in the early years (aged 0-4 years). Appl Physiol Nutr Metab 2012;37:773–92.

    3. Guthold R., Stevens GA Stevens, Riley LM, Bull FC. Worldwide trends in insufficient physical activity from 2001 to 2016: a pooled analysis of 358 population-based surveys with 1·9 million participants. Lancet Glob Health 2018; 6: e1077–86.

      Studie lesen
    4. Bauman AE, Reis RS, Sallis JF, et al. Lancet Physical Activity Series Working Group. Correlates of physical activity: why are some people physically active and others not? Lancet 2012;380:258–71.

    5. Activity P, Alliance H. Physical activity and adolescent girls – Knowledge Exchange Network. 2009. http://www.paha.org.uk/Feature/physical-activity-and-adolescent- girls-knowledge-exchange-network (accessed Jul 2016).

    6. Corder K, Sharp SJ, Atkin AJ, et al. Change in objectively measured physical activity during the transition to adolescence. Br J Sports Med 2015;49:730–6.

    7. Cooper AR, Goodman A, Page AS, et al. Objectively measured physical activity and sedentary time in youth: the International children’s accelerometry database (ICAD). Int J Behav Nutr Phys Act 2015;12:113.

    8. Parkinson KN, Pearce MS, Dale A, et al. Cohort profile: the Gateshead Millennium Study. Int J Epidemiol 2011;40:308–17.

    9. Hughes AR, Sherriff A, Lawlor DA, et al. Incidence of obesity during childhood and adolescence in a large contemporary cohort. Prev Med 2011;52:300–4.