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Das Bauchgefühl entscheidet

Wie Talentscouts junge Nachwuchsspieler aus dem Breitensport beurteilen

Talententwicklung
Eine Studie betrachtet, wie Talentscouts junge Nachwuchsspieler aus dem Breitensport beurteilen.
    • Talentprädiktoren helfen, das Entwicklungspotenzial von jungen Fußballspielern zu bewerten.
    • Welche Talentprädikatoren Scouts für wichtig halten, ist wissenschaftlich noch wenig untersucht.
    • 92 % der befragten Scouts verlassen sich bei ihrer endgültigen Prognose hauptsächlich auf ihren subjektiven Gesamteindruck eines Spielers. Unabhängig voneinander bewertete Merkmale spielen eine untergeordnete Rolle.
    • Die Auswahlchance hängt von dem jeweiligen Talentsucher ab, der das Turnier bewertet.
    • Eine Zerlegung der Gesamtbeurteilung in Teilschritte mit spezifischen Sub-Prädiktoren und die Unterteilung in verschiedene Rangstufen könnte die Aussagekraft von Rankings stärken.
Abstract

Nachwuchstalente müssen erst 18 oder 21 werden, bis sich zeigt: Es reicht für die Elite. Talentscouts der Profivereine suchen schon bei Kindern im Breitenfußball nach vielversprechenden Nachwuchskickern für die Förderprogramme. Aber wie zuverlässig ist die Talentauswahl? Ein Wissenschaftlerteam aus der Schweiz und aus Deutschland hat in einem Feldtest 100 Scouts in zwei Sichtungsturnieren 24 Schweizer U11-Spieler bewerten lassen und sie zu ihrem Vorgehen befragt. Das Ergebnis: Talentscouts bewerten Nachwuchstalente eher aufgrund ihres subjektiven Eindrucks als anhand objektiver Kriterien. Manches schlummernde Talent könnte so den Nachwuchsleistungszentren der Profivereine entgehen.

Scouts auf Talentsuche im Jugendfußball

Bei der Suche nach vielversprechenden Talenten geht es nicht darum, die aktuell besten Jugendspieler zu verpflichten, sondern diejenigen zu finden, die das größte Entwicklungspotenzial haben. Mit geschultem Blick machen Talentscouts aus, wer das Zeug zum Profispieler haben könnte. In den Altersgruppen, in denen junge Kicker noch in ihrer körperlichen und technischen Entwicklung begriffen sind, geht es weniger um spektakuläre Leistungen auf dem Platz, sondern vielmehr um die Einschätzung grundlegender Fähigkeiten und Fertigkeiten wie zum Beispiel Ballkontrolle, Schnelligkeit und Spielverständnis. Aber wie entscheiden Talentscouts, wer aus dem Breitenfußball in ein Talentförderprogramm eines Profivereins aufgenommen werden sollte?

Die Forschung zur Talentidentifizierung schlägt dafür verschiedene Prädiktoren vor, die die Suche nach schlummernden Ausnahmetalenten erleichtern und die Bewertung von vielversprechenden Spielern objektivieren sollen. Dazu zählen konditionelle Leistungsmerkmale wie Ausdauer und Schnelligkeit sowie technische Fertigkeiten wie Dribbling oder Passspiel, aber auch psychologische und kognitive Fähigkeiten. Sie sollen Talentscouts helfen, vorauszusagen, ob ein Fußballtalent den Sprung in den Profifußball schaffen könnte – oder ob es vielleicht doch nicht für die Elite reicht.

Ein Blick in die Glaskugel

Allerdings deutet die Forschung auch daraufhin, dass Talentscouts bei Sichtungen meist ihrem Bauchgefühl folgen und ihre Auswahlentscheidungen überwiegend anhand subjektiver Bewertungen treffen [1, 2, 3]. „Auswahlentscheidungen können ungenau, voreingenommen und manchmal sogar unlogisch sein“, stellt die kanadische Sportwissenschaftlerin Kathryn Johnston fest [4]. Mit schwerwiegenden Folgen für die Nachwuchsarbeit der Profivereine – entweder, weil ein vielversprechender Kandidat fälschlicherweise ausgewählt wird und dann trotz Förderung doch nicht das Zeug zum Spitzenspieler entwickelt, oder weil ein schlummerndes Ausnahmetalent unentdeckt bleibt und von der Talentförderung ausgeschlossen wird.

Dem sollen objektive Diagnostiken Vorschub leisten und den subjektiven Gesamteindruck bei der Spielerbewertung unterstützen. Bislang wurde aber nur wenig untersucht, welche Talentprädikatoren Scouts für wichtig halten und ob sie sie für ihre Beurteilung förderungswürdiger Nachwuchsspieler tatsächlich nutzen. Ein Team von Wissenschaftlern aus der Schweiz und Deutschland ist dieser Frage nachgegangen und hat die Beurteilungspraxis von Talentscouts in einem groß angelegten Feldtest untersucht.

Wie gehen Talentscouts bei ihrer Ranglistenerstellung vor?

100 Talentscouts, die beim Schweizerischen Fußballverband (SFV) ausgebildet wurden und zwischen zweieinhalb und knapp fünf Jahren in der Talentauswahl aktiv tätig waren, nahmen an der Studie teil. In vier Gruppen eingeteilt, verfolgten sie zwei verschiedene per Kamera aufgezeichnete Auswahlturniere der Altersgruppe U11 mit insgesamt 24 Spielern aus Schweizer Breitensportvereinen. Die Turniere bestanden aus acht Spielen, jeweils vier im 3:3- und 7:7-Format, entsprechend den Regeln des Schweizerischen Jugendfußballverbandes. Pro Turnier konnten sich zwölf Nachwuchstalente präsentieren. Die Spiele wurden durch kurze Pausen unterbrochen, in denen die Spielpositionen gewechselt wurden.

Aufgabe der Scouts war es, die Videoaufzeichnungen zu sichten und die Spieler genau wie bei einer realen Talentsichtung zu bewerten und in eine Rangliste für die Auswahl in ein Talentförderprogramm zu ordnen. So entstanden insgesamt 200 Ranglisten, die die Forscher als Aussagen über potenzielle Talente miteinander verglichen haben. Zudem wurden die Scouts per Fragebogen zu ihrem Vorgehen bei der Spielerbeurteilung befragt.

Die einen sehen, was andere nicht sehen

Das Ergebnis: Die Scouts lagen bei ihrer Einschätzung der U11-Spieler, ob sie für ein Talentförderprogramm ausgewählt werden sollten, weit auseinander. „Die Übereinstimmung bezüglich der Talentpotenziale war nicht vorhanden bis gering und daher weit von dem entfernt, was für die Talentselektion als akzeptabel angesehen werden sollte“, sagen die Autoren. Ein Befund, der sich mit früheren Forschungserkenntnissen [1] deckt. Auch die Befragung der Scouts zu ihrer Vorgehensweise zeigt kein einheitliches Bild: Acht von zehn befragten Scouts gaben an, schon vor dem Spiel zu wissen, welche Fähigkeiten oder Merkmale eines Spielers oder einer Spielerin sie bewerten werden. Dreiviertel der Befragten gaben an, jedes Merkmal separat zu bewerten, wenn sie ein Talent beobachten. Aber neun von zehn Scouts (92 %) stimmten auch der Aussage zu, sich letztendlich bei ihrer endgültigen Vorhersage hauptsächlich auf ihren Gesamteindruck eines Spielers zu verlassen – und nicht auf die Summe der Werte der unabhängig voneinander bewerteten Merkmale. „Somit hängt die Einstufung eines Spielers und damit seine Auswahlchance von dem jeweiligen Talentsucher ab, der das Turnier bewertet“, schlussfolgern die Studienautoren.

Warum werden Talente unterschiedlich bewertet?

Die Gründe für die uneinheitlichen Bewertungen sind vielschichtig. Ein Erklärungsversuch liegt in der dynamischen Natur des Fußballspiels. Da das Spielgeschehen schwer vorhersehbar und immer anders ist, sind die Informationen und Anhaltspunkte für die Bewertung eines Spielers zufällig, zahlreich, zeitgleich, variierend in ihrer Häufigkeit, mal mehr und mal weniger offensichtlich und möglicherweise sogar widersprüchlich. Allein schon diese Komplexität könnte zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen bei verschiedenen Spielbeobachtern führen, vermuten die Studienautoren.

Eine zweite Erklärung steckt in der Frage, wie objektive Diagnostiken für die Talentselektion im Jugendfußball bewertet und angewendet werden. Studien, die Trainer und Scouts in England und Australien danach gefragt haben, welche Fähigkeiten und Merkmale sie als wichtig für die Beurteilung erachten, konnten keinen Konsens ausmachen. Zwar schreiben die Befragten technischen (z. B. erster Ballkontakt, Ballannahme und Finten; insbesondere unter Druck), taktischen (z. B. Entscheidungsfähigkeit) und psychologischen Attributen (z. B. Trainierbarkeit und positive Einstellung) eine ähnlich hohe Bedeutung zu. Allerdings bewerten die Befragten deren Bedeutung für die Talentvorhersage sehr unterschiedlich [5, 6], was in der Praxis zu Unstimmigkeiten bei der Talentauswahl führen kann. Darüber hinaus wiesen die Ergebnisse auf Eigenschaften und Qualitäten hin, die im Rahmen des Talentfindungsprozesses nicht hervorgehoben werden, darunter physiologische, anthropometrische, soziologische und verschiedene psychologische Eigenschaften. 

Als dritte Erklärung führt das Schweizer Forschungsteam die Beschreibung der Prädiktoren für die Leistungsbewertung an. „Vielleicht waren sie nicht spezifisch genug und wurden zu allgemein gehalten, was dazu geführt haben könnte, dass die Scouts unterschiedliche Spielszenen wahrgenommen und/oder dieselbe Szene unterschiedlich interpretiert haben“, vermuten die Autoren. So könnten unterschiedliche Bewertungen des gleichen Spielers zustande gekommen sein.

Wie ließe sich die Aussagekraft von Rankings stärken?

Die Studie macht die Fallstricke der Talentauswahl deutlich. Die Unstimmigkeit in der Spielerbewertung ist für beide Seiten problematisch: Für junge Talente, die möglicherweise übersehen werden und keine Chancen haben, es in die Elite zu schaffen; wie für Fußballvereine, die sich nicht hinreichend darauf verlassen können, dass Nachwuchsspieler mit dem größtmöglichen Potenzial auch tatsächlich identifiziert werden.

Dass ein strukturierteres Vorgehen die Spielerbewertung stärker objektivieren könnte, wie es im Personalrecruiting oder in akademischen Zulassungsentscheidungen üblich ist, dem erteilt die Talentforschung eine Absage. Eine aktuelle Studie mit 96 Fußballtrainern und -scouts konnte keine verbesserte Zuverlässigkeit und Vorhersagekraft bei der Bewertung der Leistung erwachsener Profifußballer mit strukturierten Ansätzen im Vergleich zu einem ganzheitlich angelegten Ranking feststellen [7].

Ranglisten aufbrechen und differenzierter bewerten

Stattdessen schlagen die Studienautoren vor, die Gesamtbeurteilung für das Ranking in Teilschritte zu zerlegen und die Teilbeurteilungen mit entsprechenden Sub-Prädiktoren zu versehen. In der Forschungsliteratur werden dafür Einteilungen wie TIPS (Technik, Intelligenz, Persönlichkeit, Schnelligkeit), TABS (Technik, Einstellung, Ausgeglichenheit, Schnelligkeit) oder SUPS (Schnelligkeit, Verständnis, Persönlichkeit, Geschicklichkeit) vorgeschlagen [8, 9]. Dafür müssten die zugehörigen Bewertungsskalen in den Richtlinien genauer definiert und beschrieben werden. So könnte eine Gruppe von 12 Spielern zum Beispiel in drei Rangstufen unterschieden werden: Spitzen-, Mittel- und Schlussrang, gefolgt von Spieler-Ranglisten innerhalb jeder Stufe, sollte dies noch erforderlich sein.

So würde das Ranking verfeinert. Die differenzierten Teilbeurteilungen könnten zu genaueren, aussagekräftigeren und damit zuverlässigeren Spielerbewertungen führen – und zu mehr übereinstimmenden Ergebnissen verschiedener Scouts. Damit würde die subjektive visuelle Beurteilung des Scouts zugunsten einer objektiveren Bewertung verschoben – und die Investition in die Talentförderung der Profivereine letztlich effektiver. Denn: Von den Hunderten junger Talente im Nachwuchsleistungszentrum eines Bundesligisten schaffen es letztlich nur wenige tatsächlich zu den Profis.

Die Inhalte basieren auf der Studie „Disagreement between talent scouts: Implications for improved talent assessment in youth football“, die 2023 im „Journal of Sports Sciences” veröffentlicht wurde.

Literatur

  1. Lüdin, D., Donath, L., & Romann, M. (2023). Disagreement between talent scouts: Implications for improved talent assessment in youth football. Journal of Sports Sciences, 1-8.
    Studie lesen
    1. Bergkamp, T. L., Frencken, W. G., Niessen, A. S. M., Meijer, R. R., & den Hartigh, R. J. (2022). How soccer scouts identify talented players. European Journal of Sport Science, 22(7), 994-1004.

    2. Christensen, M. K. (2009). “An eye for talent”: Talent identification and the “practical sense” of top-level soccer coaches. Sociology of Sport Journal, 26(3), 365-382.

    3. Johansson, A., & Fahlén, J. (2017). Simply the best, better than all the rest? Validity issues in selections in elite sport. International Journal of Sports Science & Coaching, 12(4), 470-480.

    4. Johnston, K., & Baker, J. (2020). Waste reduction strategies: factors affecting talent wastage and the efficacy of talent selection in sport. Frontiers in Psychology, 10, 2925.

    5. Larkin, P., & O’Connor, D. (2017). Talent identification and recruitment in youth soccer: Recruiter’s perceptions of the key attributes for player recruitment. PLoS ONE, 12(4), e0175716.

    6. Roberts, S. J., McRobert, A. P., Lewis, C. J., & Reeves, M. J. (2019). Establishing consensus of position-specific predictors for elite youth soccer in England. Science and Medicine in Football, 3(3), 205-213.

    7. Bergkamp, T. L., Meijer, R. R., den Hartigh, R. J., Frencken, W. G., & Niessen, A. S. M. (2022). Examining the reliability and predictive validity of performance assessments by soccer coaches and scouts: The influence of structured collection and mechanical combination of information. Psychology of Sport and Exercise, 63, 102257.

    8. Stratton, G., Reilly, T., Richardson, D., Williams, A. M. (2004). Youth soccer: From science to performance. Routledge

    9. Brown, J. (2001). Sports talent. Human Kinetics.