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Der relative Alterseffekt im deutschen Spitzenfußball

Eine vergleichende Analyse der Geburtenverteilung im Frauen- und Männerfußball

Talententwicklung
Eine vergleichende Analyse der Geburtenverteilung im Frauen- und Männerfußball.
    • Der relative Alterseffekt (RAE) bezeichnet eine schiefe Geburtenverteilung in Bezug zum Stichtag und entsteht, wenn relativ Ältere aufgrund ihres chronologischen Altersvorteils häufiger als talentiert eingeschätzt werden.
    • Ein signifikanter RAE wurde für die Bundesliga und 2. Bundesliga der Männer und für die 2. Frauen-Bundesliga identifiziert und beruht auf einer kleinen Effektstärke.
    • Der RAE ist im Männerfußball verbreiteter als im Frauenfußball.
    • Mögliche Ursachen für geschlechtsspezifische Unterschiede hinsichtlich des RAE können in der Struktur des Nachwuchsfördersystems, in der Anzahl aller aktiven Spielerinnen und Spieler, in der Tiefe eines Wettkampfsystems und/oder in überholten Geschlechtsstereotypen liegen.
Abstract

Der relative Alterseffekt (RAE) gilt als ein häufiges Phänomen im Leistungssport und kann mit dem Verlust von zukünftigen Spitzenspielerinnen und -spielern einhergehen. Während der RAE im Männerfußball eine Überrepräsentation relativ älterer, kurz nach dem Stichtag geborener Spieler zeigt, sind die bisherigen Studienergebnisse im Frauenfußball uneinheitlich. Die analysierte Originalstudie untersucht deshalb die Geburtenverteilung von 680 Spielerinnen und 1.083 Spielern der 1. und 2. Liga der Saison 2019/20 sowie der Kader der Nationalmannschaften (A-Team bis U19) im deutschen Frauen- und Männerfußball. Im Ergebnis zeigt sich, dass über alle eingeschlossenen Spielerinnen und Spieler hinweg ein RAE mit kleinen Effektstärken besteht. Dieser beruht auf einer Überrepräsentation von Spielerinnen und Spielern, die zu Beginn des Jahres geboren wurden. Im detaillierten Vergleich ist der RAE im Männerfußball ausgeprägter als im Frauenfußball. Die Studienergebnisse werden hinsichtlich möglicher Ursachen für geschlechtsspezifische Unterschiede in Bezug auf den relativen Alterseffekt diskutiert.

„Dezemberkinder werden selten Fußballstars“

Nachwuchsfördersysteme im Fußball verwenden einen „Stichtag“ (z. B. 1. Januar) zur Einteilung von Altersklassen, um einen fairen Wettkampf, Chancengleichheit und eine altersgemäße Entwicklungsumgebung zu schaffen [1]. Trotz der Bildung von Altersklassen kann es zu bedeutsamen Altersunterschieden innerhalb eines Jahrgangs kommen. Beispielsweise ist eine Spielerin, die am 1. Januar geboren wurde, nahezu ein Jahr älter im Vergleich zu einer Spielerin, die Ende Dezember des gleichen Jahres geboren wurde. Der sich daraus ergebende potenzielle Entwicklungsvorteil und die resultierenden Folgen bei der Talentauswahl werden als relativer Alterseffekt [engl. Relative Age Effect (RAE)] bezeichnet. 

Kaum Untersuchungen im Frauenfußball

Übersichtsstudien zeigen, dass es eine Reihe von Faktoren gibt, die den RAE beeinflussen können [2, 3]. So haben nachweislich die Art der ausgeübten Sportart, das Spielniveau, das Alter per se und die Spielposition einen Einfluss auf das Phänomen des RAE. Während zahlreiche Studien den RAE im Männerfußball betrachten und im Wesentlichen dabei eine Überrepräsentation von relativ älteren Spielern festgestellt haben [4-6], gibt es im Frauenfußball nur wenige Untersuchungen mit teils widersprüchlichen Ergebnissen. Die analysierte Studie von Götze und Hoppe (2021) hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, den RAE im deutschen Frauenfußball zu prüfen und diesen mit dem deutschen Männerfußball zu vergleichen. Dafür wurden die Geburtstage von 680 Spielerinnen und 1.083 Spielern der ersten und zweiten Liga aus der Saison 2019/20 und die Kader der Nationalmannschaften (A-Team bis U19) der jeweiligen letzten Welt- und Europameisterschaften (2015-2018) ermittelt und mit der Geburtenverteilung der entsprechenden Normalbevölkerung statistisch verglichen.

Der RAE ist im Männerfußball verbreiteter als im Frauenfußball

Im Ergebnis zeigt sich, dass über alle eingeschlossenen Spielerinnen und Spieler hinweg ein RAE mit kleinen Effektstärken besteht, der mit einer Überrepräsentation von Spielerinnen und Spielern, die zu Beginn des Jahres geboren wurden, einhergeht (TAB. 01 & 02). Im detaillierten Vergleich ist der RAE im Männerfußball ausgeprägter als im Frauenfußball. Während in der Bundesliga und der 2. Bundesliga der Männer ein signifikant höherer Anteil an relativ älteren Spielern gefunden wurde, besteht im Ligen-Vergleich dieser Effekt nur in der 2. Frauen-Bundesliga, nicht aber in der Frauen-Bundesliga. Auf der Ebene der Nationalmannschaften wurde für die U19 der Männer ein signifikanter RAE festgestellt. Bei allen übrigen Nationalteams (A-Team bis U20) unterschied sich die Geburtenverteilung des nominierten Kaders nicht statistisch signifikant von der Normalbevölkerung (ABB. 01).

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Mögliche Erklärungen zur Entstehung des RAE

Analysen der Geburtenverteilung in anderen europäischen Topligen und in Sportarten, wie zum Beispiel Eishockey, Volleyball und Handball, bestätigen die weite Verbreitung des RAE und lassen einen Zusammenhang zwischen der physischen Anforderung und der Ausprägung des RAE vermuten. Es ist denkbar, dass eine Überrepräsentation von relativ älteren Spielerinnen und Spielern im Seniorenbereich auf einen kurzfristigen Entwicklungsvorsprung im Jugendalter und einer damit verbundenen vermehrten Auswahl bei Talentselektionsmaßnahmen einhergeht. Unter dem Druck von kurzfristigem Erfolg könnten Trainerinnen und Trainer dazu neigen, relativ ältere Spielerinnen und Spieler mit einer durchschnittlichen früher beginnenden biologischen Reife auszuwählen und den langfristigen Prozess der Talententwicklung zu wenig zu berücksichtigen.

Der RAE und der Einfluss des Geschlechts

Die Ergebnisse der vorliegenden Studie deuten darauf hin, dass der RAE im Männerfußball verbreiteter ist als im Frauenfußball. Mögliche Erklärungen dafür könnten in der Struktur des Nachwuchsfördersystems, der Anzahl aller aktiven Spielerinnen und Spieler einer Sportart, der Anzahl der Gliederungsebenen eines Wettkampfsystems, und/oder überholten Geschlechtsstereotypen liegen. Beispielsweise würde eine generelle geringere Anzahl an allen verfügbaren Spielerinnen und Spielern einer Sportart dazu führen, dass der Wettkampf um die Startelf-Plätze weniger intensiv ist. Daher wird ein geringerer RAE erwartet, wenn weniger Spielerinnen und Spieler an einer Sportart teilnehmen. Um diese Vermutungen zu überprüfen, sind jedoch weitere Studien erforderlich. 

Anregungen für mögliche Auswege

Ein wichtiger Schritt, um dem RAE entgegenzuwirken, ist die Weiterbildung von Nachwuchstrainerinnen und -trainern hinsichtlich der Problematik des RAE bei der Talentförderung. Beispielsweise könnten Trainerinnen und Trainer neben der Sensibilisierung für das Phänomen des RAE mit Zusatzinformationen bei der Talentauswahl unterstützt werden. Da eine Studie gezeigt hat, dass Trainer ungeachtet der tatsächlichen Leistungsunterschiede groß gewachsene Spieler mit einer hohen Leistungsfähigkeit in Verbindung bringen, könnte die Angabe des relativen Alters als Nummer auf dem Leibchen während der Sichtungsmaßnahmen zu einer Reduzierung des RAE führen [7, 8]. Andere Maßnahmen zielen auf die Änderung der Altersklasseneinteilung mittels eines Stichtags, die Verschiebung der Talentselektion in den Zeitraum nach der Pubertät oder der Vorgabe von Quoten für die Geburtenverteilung von selektierten Spielerinnen und Spielern ab, wenngleich diese auch von Kritikpunkten begleitet sind [9].

Die Inhalte basieren auf der Originalstudie „Relative age effect in elite German soccer: influence of gender and competition level”, die 2021 im Journal “Frontiers in Psychology” veröffentlicht wurde.

Literatur

  1. Götze, M., & Hoppe, M. W. (2021). Relative age effect in elite German soccer: influence of gender and competition level. Front Psychol, 11, 587023.
    Studie lesen
    1. Votteler, A. (2018). Der relative Alterseffekt im deutschen Nachwuchsfußball. Universitätsbibliothek Tübingen.

    2. Cobley, S., Baker, J., Wattie N., & McKenna J. (2009). Annual age-grouping and athlete development: A meta-analytical review of relative age effects in sport. Sports Med, 39(3), 235-256.

    3. Smith, K. L., Weir, P. L., Till, K., Romann, M., & Cobley, S. (2018). Relative age effects across and within female sport contexts: A systematic review and meta-analysis. Sports Med, 48(6), 1451-1478.

    4. Barnsley, R. H., Thompson, A. H., & Legault, P. (1992). Family planning: Football style. The relative age effect in football. Int Rev Sociol Sport, 27(1),77-87.

    5. Verhulst, J. (1992). Seasonal birth distribution of west European soccer players: A possible explanation. Med Hypotheses, 38(4), 346-348.

    6. Helsen, W. F., Baker, J., Michiels, S., Schorer, J., Van winckel, J., & Williams, A. M. (2012). The relative age effect in European professional soccer: Did ten years of research make any difference? J Sports Sci, 30(15), 1665–1671.

    7. Mann, D. L., & van Ginneken, P. J. M. A. (2017). Age-ordered shirt numbering reduces the selection bias associated with the relative age effect. J Sports Sci, 35(8), 784–790.

    8. Furley, P., & Memmert, D. (2016). Coaches’ implicit associations between size and giftedness: implications for the relative age effect. J Sports Sci, 4(5), 459–466.

    9. Güllich, A. (2014). Selection, de-selection and progression in German football talent promotion. Eur J Sport Sci, 14(6), 530–537.