Abstract

Die vorliegende Studie analysiert die Entwicklung der Anzahl des Abseitsvergehens in den ersten Ligen in England, Spanien, Italien, Deutschland und Frankreich von der Saison 2009/10 bis zur Saison 2018/19. Dabei zeigte sich ein kontinuierlicher Rückgang der Abseitsvergehen pro Spiel. In der Bundesliga wurden beispielsweise in der Saison 2009/10 im Durchschnitt 6,3 (± 3,2) Abseitsvergehen pro Spiel und in der Saison 2018/19 nur noch 4,0 (± 2,5) Abseitsvergehen pro Spiel festgestellt. Mögliche Ursachen für einen Rückgang sieht Zhao (2021) in einem veränderten individual- und kollektivtaktischen Verhalten, in der Auslegung der passiven Abseitsregelung sowie in der Einführung des Video-Schiedsrichterassistenten.

Die Abseitsregel im Wandel der Zeit

Die Abseitsregel ist ein besonderes Merkmal von Fußballspielen, sie trägt zur Dynamik des Spiels bei und verlangt kreative Lösungen der Spieler zur Torerzielung. Derzeit geht man von einem Abseitsvergehen aus, wenn sich ein Spieler in der gegnerischen Hälfte zum Zeitpunkt des Zuspiels näher an der gegnerischen Grundlinie als der Ball und als der vorletzte Gegenspieler befindet (detailliert in Fußballregeln 2021/22 – DFB). Im 19. Jahrhundert war das noch anders. Die erste offizielle Abseitsregel im Jahr 1863 besagte, dass ein Spieler im Abseits steht, wenn er sich vor dem Ball befindet. Zu dieser Zeit waren nur Pässe nach hinten erlaubt. Seither unterlag die Abseitsregel zahlreichen Modifizierungen und war in den letzten Jahren auch Gegenstand von wissenschaftlichen Untersuchungen.  

Die Analyse des Abseitsvergehens in den Top-5-Ligen Europas

Da es bisher noch keine Langzeitstudie zur Beobachtung des Abseitsvergehens im Elite-Fußball gibt, hat es sich Zhao (2021) zur Aufgabe gemacht, die Entwicklung des Abseitsvergehens in den europäischen Top-5-Ligen von der Saison 2009/10 bis 2018/19 zu untersuchen. Hierfür wurden über 18.000 Spiele in der ersten Liga in England, Spanien, Italien, Deutschland und Frankreich analysiert. Zielstellung der Studie war es a) einen Trend über die letzten 10 Spielzeiten zu identifizieren, b) die Ligen bezüglich des Abseitsvergehens untereinander zu vergleichen und c) den Einfluss der Einführung des Video-Schiedsrichterassistenten (VAR) auf die Anzahl von Abseitsvergehen zu ermitteln.

Abseitsvergehen nahmen insgesamt in den letzten 10 Saisons ab 

Im Ergebnis zeigte sich, dass über alle eingeschlossenen Ligen hinweg die Anzahl an Abseitsvergehen pro Spiel über die letzten 10 Saisons kontinuierlich abnahm (TAB. 01). Beispielsweise betrug die Anzahl an Abseitsvergehen pro Spiel in der Bundesliga in der Saison 2009/10 im Durchschnitt 6,3 (± 3,2). In der Saison 2018/19 waren es jedoch nur noch durchschnittlich 4,0 (± 2,5) Abseitsvergehen pro Spiel.
Beim Vergleich der Ligen untereinander ergab sich eine statistisch signifikant geringere Anzahl an Abseitsvergehen in der Premier League (ENG) und Ligue 1 (FRA) in Bezug zu den anderen drei Ligen.
Mit der Einführung des VAR (Bundesliga = 2017/18, Serie A = 2017/18, La Liga = 2018/19, Ligue 1 = 2018/19, Premier League = 2019/20) wurde tendenziell ein Rückgang der Abseitsvergehen pro Spiel festgestellt. Ausreichend statistisch abgesichert wurde dieser Effekt jedoch nur für die Ligue 1 und die Serie A. Über die Premier League kann diesbezüglich keine Aussage getroffen werden, da der VAR erst in der Saison 2019/20 eingeführt wurde und diese nicht mehr im Untersuchungszeitraum der Studie lag.

Mögliche Gründe für den Rückgang der Anzahl an Abseitsvergehen

Die Anzahl der Abseitsvergehen ist auf einem historischen Tiefstand. Der Studienautor vermutet, dass das auch auf ein verändertes individual- und kollektivtaktisches Verhalten der Spieler zurückzuführen ist. Um diese These zu untermauern, wurden im Untersuchungszeitraum auch die Anzahl der Ballkontakte und Pässe ausgewertet und ein umgekehrter Trend wie bei den Abseitsvergehen identifiziert. Aus der gestiegenen Zahl von Ballkontakten und Pässen schlussfolgerte Zhao (2021) eine grundsätzliche Anpassung der Spielstile, hin zu mehr Organisiertheit und Ballbesitz. Mit dieser Entwicklung geht beispielsweise auch eine Optimierung der offensiven Laufwege und des Timings bei vertikalen Pässen einher, was letztlich zu einer Verminderung von Abseitsvergehen geführt haben könnte. Weiterhin setzten immer mehr Teams auf ein Abwehrverhalten, welches auf ein Angriffs- bzw. Gegenpressing ausgerichtet ist. Im Erfolgsfall führt dies zur Balleroberung tief in der gegnerischen Hälfte und einen unorganisierten Gegner beim nachfolgenden Angriff, bei welchem Abseitsstellungen dann deutlich seltener auftreten.

Eine andere Erklärung könnte die passive Abseitsregelung sein. Diese erlaubt, dass sich ein Angriffsspieler durchaus hinter der letzten Verteidigungslinie befinden darf, ohne sofort ein Vergehen zu riskieren. Aus Sicht der Verteidigung bedeutet es, dass die Abseitslinie keine Garantie mehr ist und als mögliche Konsequenz tief stehender verteidigt wird, um alle Angriffsspieler vor sich zu haben. Folglich reduziert sich auch der Spielraum zwischen dem vorletzten Verteidigungsspieler und der gegnerischen Grundlinie. Obwohl die beschriebene Regelung bereits im Jahr 2005 eingeführt wurde und daher im gesamten Studienzeitraum galt, ist dennoch denkbar, dass die Profimannschaften erst mit einer gewissen Verzögerung erkannt haben, diese effektiv und bewusst für das Offensivspiel zu nutzen. Auch die Einführung des VAR wird von Zhao (2021) in Übereinstimmung mit einer früheren Studie [1] als mögliche Ursache für den Rückgang an Abseitsvergehen genannt. Dies vor dem Hintergrund, dass falsch getroffene Abseitsentscheidungen, die aus Wahrnehmungsfehlern der Schiedsrichterassistenten resultieren, minimiert wurden.

Die Inhalte basieren auf der Originalstudie „Downtrends in offside offenses among ‘The Big Five’ European football leagues”, die 2021 in der Fachzeitschrift “Frontiers in Psychology” veröffentlicht wurde.