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Die Kunst, einen Elfmeter zu parieren

Forscher untersuchen, wie ein Torwart zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist

Taktik & Spielanalyse
Die deutsche U 17 Torhüterin Pauline Nelles pariert einen Elfmeter bei der U 17 EURO.
    • Neben Wahrnehmungsfähigkeiten des Torwarts zum Anlauf des Elfmeterschützens und der potenziellen Flugbahn des Balls, sind räumlich-zeitliche Parameter für eine erfolgreiche Parade entscheidend.
    • Die Flugzeit des Balls beträgt nur ca. 0,5 Sekunden bis er die Torlinie erreicht und lässt kaum Zeit, visuelle Hinweise zu verarbeiten.
    • Das Affordanz-basierte Modell berücksichtigt die laterale Absprunggeschwindigkeit, die Distanz zum Ball, die Position und die Absprungsexplosivität des Torwarts in Relation zum Ball.
    • Ziel des Modells: Torwarte sollen ihr Handeln so gestalten, dass sie es noch möglichst spät verändern können.
Abstract

Sportwissenschaftler schlagen ein neues Vorhersagemodell vor, um zu beschreiben, wie ein Torwart sein Handeln so steuern kann, dass er beim Elfmeterschießen zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist. Das sogenannte „Affordance-based Control Model“ stellt nicht allein auf die Einschätzung des Torwarts ab, wie und wo der Schütze den Ball platzieren könnte. Es nimmt auch die eigene Absprunggeschwindigkeit, das Timing und die Flugzeit des Balls in den Blick und stellt eine Relation zwischen den verschiedenen Einflussgrößen her, die dazu beitragen, dass ein Elfmeter erfolgreich gehalten werden kann. Das Modell soll das Parieren eines Elfmeters berechenbarer machen und neue Ansätze für das Training schaffen.

Elfmeter halten: Zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Ecke

Es ist 7 Meter 32 breit und 2 Meter 44 hoch, seine Ecken sind von der Tormitte aus für den Torwart fast unerreichbar. Nur 22 Prozent des Tors kann er räumlich abdecken, hat der Physiker Metin Tolan errechnet [1]. Somit gerät ein Elfmeterschießen in Pokal-, Relegations- oder Turnierspielen regelmäßig zur nervlichen Zerreißprobe – nicht nur beim Torwart. "Die Wahrscheinlichkeit liegt bei 25 Prozent, dass der Torwart hält", sagt der Wissenschaftler. Doch wie entscheiden sich Torwarte, in welche Richtung sie springen und woran liegt es, dass ein Elfmeter erfolgreich gehalten wird? Eine aktuelle Studie belegt nun, dass es für einen Torwart nicht allein ausreicht, zu wissen, in welche Ecke er springen muss, um den Strafstoß zu parieren. Auch das Timing und die Absprunggeschwindigkeit ist entscheidend: Er muss zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sein, um den Ball halten zu können.

Das Timing – ein blinder Fleck in der Sportwissenschaft?

„Der zeitliche Aspekt der Abwehrreaktion eines Torwarts ist bislang sportwissenschaftlich weitestgehend unbeleuchtet geblieben“, argumentiert der leitende Studienautor John van der Kamp von der Freien Universität Amsterdam. Bisher sei die Trainings- und Sportwissenschaft davon ausgegangen, dass das erfolgreiche Parieren von Elfmetern vor allem auf Wahrnehmungsfähigkeiten des Torwarts gründe. Diese Betrachtung reiche aber nicht aus angesichts der extrem engen zeitlichen Bedingungen, die das Elfmeterhalten so unglaublich schwermachen. Messungen haben gezeigt, dass der Ball nach einem straffen Vollspannstoß nur ca. eine halbe Sekunde lang fliegt, bis er die Torlinie erreicht [2, 3]. Der Torwart aber braucht mindestens 0,6 Sekunden, um zu einer Seite zu springen und sogar bis zu einer vollen Sekunde, um die obere Ecke des Tors zu erreichen [2, 4, 5]. Beim Schuss in eine der Ecken des Tors bleibt ihm unter diesen Umständen also keine Zeit, visuelle Hinweise zur Flugbahn des Balls bei seiner Entscheidung für eine Option zu berücksichtigen. Bislang war man in der Forschung deshalb der Auffassung, dass der Erfolg des Torwarts beim Parieren eines Elfmeters vor allem von seinen kognitiven Prozessen abhängt und seiner Fähigkeit, Hinweise aus dem Anlauf des Schützen zu nutzen, um die Flugbahn des Balls vorherzusagen. Entsprechend versuchten viele Studien in der Vergangenheit zu ergründen, auf welche Informationen ein Torwart kurz vor dem Torschuss achten kann, um sich für die richtige Aktion zu entscheiden. Die meisten setzten auf die Videoanalyse.

Der Torwart sollte auf eine per Video aufgezeichnete Anlaufaktion von Elfmeterschützen reagieren und antizipieren – entweder mündlich oder durch Drücken eines Knopfs. Andere Studien werteten die Blickverfolgung des Torwarts aus. Dieser Forschungsansatz versprach, die Wahrnehmungsfähigkeit des Torwarts isoliert von seiner Handlung betrachten zu können. Allerdings habe dieser Ansatz eine Reihe von Schwächen, kritisieren van der Kamp und seine Kollegen:

  • Videoaufgaben können die physisch-reale Reaktion nur unzulänglich nachbilden,
  • Die Zeitspanne, die ein Torhüter braucht, um auf eine Videosituation zu reagieren, entspricht nicht der tatsächlichen motorischen Reaktionszeit während eines Elfmeters vom Entscheiden bis zum Parieren des Balls,
  • Unterschiedliche Ausprägungen von physischen Fähigkeiten und technischen Fertigkeiten verschiedener Torwarte lassen sich per Videoanalyse nicht erfassen und erklären.
Zudem hätten videotechnisch basierte Untersuchungen nur auf die räumliche Dimension des Elfmeterhaltens abgestellt. „Bislang aber hat noch keine Studie verwertbares Wissen darüber geliefert, wie Torwarte welche Informationen nutzen, um ihre Handlungsentscheidung passend zu timen“, stellen die Studienautoren fest.

Neues Vorhersagemodell: Neben der Richtung ist der Zeitpunkt des Absprungs entscheidend

Van der Kamp und seine Kollegen haben deshalb ein neues Vorhersagemodell entwickelt, dass zu einem besseren Verständnis verhelfen soll, wie der Torwart seine Chancen unter diesem extremen Zeitdruck am besten nutzen kann. Das sogenannte „Affordance-based Control Model“ der Studienautoren beschreibt und bestimmt die Relationen zwischen den verschiedenen Einflussgrößen, die dazu beitragen, dass ein Elfmeter erfolgreich gehalten werden kann.

Ihr Ansatz greift auf den „Affordanz“-Begriff (engl. afford, zu dt.: gewähren, anbieten) zurück, der von dem amerikanischen Wahrnehmungs- und Gestaltpsychologen James J. Gibson geprägt worden ist. Gemeint ist damit die Handlungsmöglichkeit, die sich uns in einer gegebenen Situation bietet [6]. Oder anders gesagt: Die Dinge in unserer Umwelt sagen uns, was wir tun sollen. Ein Stuhl fordert zum Sitzen auf, eine Schere zum Schneiden, ein fliegender Ball zum Fangen. Was das im sportlichen Kontext bedeutet, erläutern die Studienautoren am Beispiel eines Baseballspielers: Will ein Outfielder den weit ins Feld geschlagenen Ball fangen, passt er seine motorische Reaktion – also Geschwindigkeit und Laufrichtung – solange an die wahrgenommene Flugkurve des Balls an, wie er den Ball für erreichbar hält. Dabei werden seine Handlungsoptionen durch den fliegenden Ball (Affordanz) begrenzt: Fliegt der Ball schneller, als er maximal sprinten kann, wird er ihn nicht fangen können [7]. Der Outfielder muss also seine Leistung an die ihm in der Situation gebotenen Informationen (z. B. Flugbahn, Fluggeschwindigkeit) anpassen [8]. Begrenzt wird sein Erfolg, den Ball zu fangen, u. a. durch seine maximale Leistungsfähigkeit.

Vom Baseball zum Elfmeter

Im Fußball könnten Torwarte von diesem Modell profitieren. Dessen Stärke liegt nach Überzeugung der Autoren darin, dass es die komplexe Elfmeter-Situation besser erfasst und die Handlungsmöglichkeiten des Torwarts differenzierter beschreibt, weil es mehr Informationen berücksichtigt als die herkömmliche perzeptiv-orientierte Analyse. „Der Torwart profitiert von den zusätzlichen Informationen, die bessere Rückschlüsse darauf zulassen, ob er früher oder später springen sollte“, sagen die Studienautoren. Entscheidende Faktoren der Bewegungsgleichung des Modells sind dabei die laterale Absprunggeschwindigkeit (wie schnell ein Torwart zur Seite springt), die Distanz zum Ball, die Torwartposition und die Explosivität des Absprungs.

Überträgt man die Bewegungsgleichung in die Praxis der Elfmetersituation bedeutet es, dass die Torwarte in den meisten Fällen nahe an ihren Leistungsgrenzen agieren müssen, um den Ball überhaupt zu erreichen. Denn schließlich versuchen sie so lange wie möglich stehen zu bleiben und nicht zu zeitig abzuspringen. Der Vorteil: So können Torwarte das enge Zeitfenster beim Elfmeterschießen besser nutzen und ihr Entscheidungshandeln so gestalten, dass sie es noch möglichst spät verändern können (beispielsweise um auf eine Reduzierung der Anlaufgeschwindigkeit des Schützen zu reagieren).

Noch müsse das Modell empirisch überprüft werden, merken die Autoren an. Belegt werden müsse zum Beispiel, ob Torwarte mit hohen Erfolgsraten beim Elfmeterhalten ihre Leistung tatsächlich an ihre maximale laterale Geschwindigkeit angepasst haben. Mit dieser neuen Betrachtungsweise könnten die Trainingsmethoden künftig noch individueller auf den Torwart zugeschnitten werden.

Die Inhalte basieren auf der Studie "Goalkeeping in the soccer penalty kick: it is time we take affordance-based control seriously!", die 2018 in „German Journal Exercise and Sport Research" veröffentlicht wurde.

Literatur

  1. van der Kamp, J., Dicks, M., Navia, J., & Noël, B. (2018). Goalkeeping in the soccer penalty kick: it is time we take affordance-based control seriously!. Ger J Exerc Res, 48(2), 169-175.
    Studie lesen
    1. Tolan M. Manchmal gewinnt der Bessere. Die Physik des Fußballspiels. München 2011

    2. Franks IM, Harvey T. Cues for goalkeepers: high-tech methods used to measure penalty shot response. Soccer Journal (1997) 42: 30-38

    3. Kuhn W. Penalty-kick strategies for shooters and goalkeepers. In: Reilly T, et al. Science and football. London (1988) 489-492

    4. Dicks M, Davids K, Button C. Individual differences in the visual control of intercepting a penalty kick in association football. Human Movement Science (2010) 29: 401-411

    5. Tsai SM. An analysis of goalkeeper diving response time for the penalty kick in soccer. XXI International Symposium on Biomechanics II, Beijing (2005) 545-547

    6. Gibson JJ. The ecological approach to visual perception. Boston (1979)

    7. Fajen BR. Affordance-based control of visually guided action. Ecological Psychology (2007) 19: 383-410

    8. Van Andel S, Cole MH, Pepping GJ. A systematic review on perceptual-motor calibration to changes in action capabilities. Human Movement Science (2017) 51: 59-71