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Von Voronoi Zellen bis Commitment Models

Wie Algorithmen freien Räume identifizieren und welche Möglichkeiten sich ergeben

Technologie & Equipment
Kai Havertz (Deutschland) läuft mit Ball auf einen niederländischen Gegenspieler zu.
    • „Motion Models“ ermöglichen Vorhersagen darüber, wo ein Spieler in einer bestimmten Zeit sein könnte.
    • „Commitment Models“ ermöglichen Vorhersagen darüber, wo ein Spieler in einer bestimmten Zeit sein könnte und wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist in einen Zweikampf zu geraten.
    • Beide Ansätze eignen sich, um das Passrisiko und die Raumkontrolle eines Spielers oder eines Teams zu bestimmen.
    • In beiden Modellen wird jedoch der Einfluss der Mitspieler nicht berücksichtigt, damit bleiben die Modelle eine unscharfe Repräsentation der Realität.
    • Weitere Studien wie etwa Expertenurteile vs. Algorithmen werden zukünftig folgen.
Abstract

Die Aufteilung und Nutzung freier Räume auf dem Spielfeld ist essenziell, um Torchancen zu kreieren und zu verhindern. Neue Algorithmen machen es möglich, diese freien Räume Spielern zuzuordnen und in kontrollierte Regionen aufzuteilen. Im Gegensatz zu traditionellen Modellen werden Faktoren wie etwa die Laufgeschwindigkeit, die Laufrichtung, die aktuelle Position auf dem Spielfeld und die Position der Gegenspieler mitberücksichtigt. Mithilfe dieser Modelle kann beispielsweise die Dominanz eines Teams und die Qualität eines Passes abgeschätzt werden. 

Vom Raumdeuter zum Modell

SpielerInnen, die sich auf dem höchsten Niveau bewegen, zeichnen sich neben der Physis auch durch ein perfektioniertes Stellungsspiel aus. In der Defensive äußert sich das, indem Pässe ohne intensive Zweikämpfe abgefangen werden oder im systematischen individuellen/kollektiven Anlaufen in Form des Pressings. Im Mittelfeld werden durch ein gutes Stellungsspiel Räume verdichtet oder geöffnet. Manchmal genügen lediglich zwei Schritte in eine bestimmte Richtung, um sich Platz zu verschaffen, Räume zu kreieren oder den Gegner unter Druck zu setzen. Spieler wie Thomas Müller werden umgangssprachlich als Raumdeuter bezeichnet und nutzen freie Räume in besonderer Weise. Auf der Basis von Positions- und Eventdaten arbeiten WissenschaftlerInnen daran, diese Räume messbar und greifbar zu machen. Dazu verwenden sie unterschiedliche Herangehensweisen und Algorithmen, die unter dem Begriff „Motion Models“ oder „Movement Models“ zusammengefasst werden.

Was sind „Motion Models“?

„Motion Models“ sind mathematische Modelle, die berechnen, welche Positionen ein Spieler zukünftig einnehmen könnte. Aus diesen möglichen Positionen ergeben sich Räume, die den jeweiligen Spielern zugesprochen werden. Sie werden kontrolliert oder besetzt. Die Positionen, die ein Spieler als erster besetzen kann, also auch kontrolliert, werden zusammengefasst und kontrollierte Region genannt. Fällt der Ball in die Kontrollzone eines Spielers, so die Annahme, hat dieser die größte Chance den Ball zu erreichen und zu kontrollieren und je mehr Raum von einer Mannschaft kontrolliert wird, desto dominanter ist sie.

Welche Varianten gibt es?

Individuelle und kollektive „Motion Models“, auf der Basis von Positionsdaten, gibt es bereits seit längerem [1-3]. Diese traditionellen Modelle werden häufig auf der Grundlage von sogenannten „Voronoi-Diagrammen“ erstellt [4]. Bei dieser geometrischen Lösung wird davon ausgegangen, dass sämtliche Spieler gleich schnell in alle Richtungen laufen können und dies auch tun. Individuelle Unterschiede, wie etwa unterschiedliche Laufgeschwindigkeiten, werden in diesem Modell nicht weiter berücksichtigt. Zusätzlich unterliegt das Modell der Annahme, dass die besetzten Räume binär ausgeprägt sind [6]. Das bedeutet, dass jede Kontrollzone von nur einem Spieler besetzt wird. Brefeld et al. (2019) hingegen nutzen ein probabilistisches (auf Wahrscheinlichkeiten basierendes) Modell, welches die aktuelle Laufgeschwindigkeit, die Position auf dem Feld und die Laufrichtung mit einbezieht [5]. So werden auch individuelle Unterschiede berücksichtigt. Dieses auf Wahrscheinlichkeiten basierende Modell zeigt, so die Autoren, wesentlich realistischere Kontrollzonen als „Motion Models“ auf der Grundlage von „Voronoi-Diagrammen“. 

Wie können die Modelle genutzt werden?

Die Kontrollzonen eignen sich beispielsweise, um die Qualität eines Passes einzuschätzen [2, 7-9]. Mit Qualität ist hier vor allem die Schwierigkeit, genauer das Risiko gemeint. Wird der Pass in eine gegnerische Kontrollzone gespielt, so ist das Passrisiko hoch, da die Gegenspieler die Chance haben den Ball abzufangen. Ebenso kann angenommen werden, dass Pässe unter Gegnerdruck anspruchsvoller sind als Pässe ohne Gegnerdruck. Kennwerte, die das Passrisiko oder den Gegnerdruck beschreiben, könnten so für definierte Zeitintervalle für jeden Spieler ermittelt werden. Zuweilen lassen sich aus den kontrollierten Regionen auch Kennzahlen für den Anteil eines Spielers am Spiel erstellen. Eine Möglichkeit besteht darin, den Anteil der individuell kontrollierten Regionen am gesamten kontrollierten Raum der Mannschaft zu bestimmen [10, 11]. Damit wird der Einfluss eines einzelnen Spielers verdeutlicht. Besonderen Wert hat die Identifikation von Räumen, die eine Torchance ermöglichen können (siehe ABB. 01).

Vergleich verschiedener "Motion Models" für dieselbe Spielsituation. Dargestellt sind kontrollierte Regionen für eine Spielsituation in der sich ein Team (weiße Punkte) eine Torchance erspielen kann in vier verschiedenen Herangehensweisen.
Vergleich verschiedener "Motion Models" für dieselbe Spielsituation. Dargestellt sind kontrollierte Regionen für eine Spielsituation in der sich ein Team (weiße Punkte) eine Torchance erspielen kann in vier verschiedenen Herangehensweisen.
Sind die Modelle ein reales Abbild der Spielsituationen?

Der von Brefeld (2019) vorgeschlagene Ansatz bildet die Bewegungen eines Spielers auf dem Feld ab und berücksichtigt dabei die initiale Laufgeschwindigkeit. Der Kontext allerdings, also das aufeinander bezogene Verhalten zweier oder mehrerer Spieler, ist in diesem Modell noch nicht integriert. Das bedeutet, dass zum Beispiel bei Zweikämpfen, indem es zu plötzlichen Richtungsänderungen kommen kann oder das Gleichgewicht eines Spielers gestört wird, ein Raum, der unter modelltheoretischen Annahmen erreichbar ist, in der Realität nun nicht mehr zu erreichen ist.

Um zu überprüfen, wie gut das Modell ist, können auch Vorhersagen getroffen werden, ob ein Pass abgefangen wird oder ankommt. Dazu wird lediglich das Ergebnis des Passes (ob angekommen oder nicht angekommen; oder abgefangen oder nicht abgefangen) von bereits stattgefundenen Aktionen in der Datenbasis gelöscht und vom Modell anhand der Modellparameter geschätzt. Eine Überprüfung der Vorhersagegenauigkeit des auf Wahrscheinlichkeiten basierenden Modells ergab in der Studie von Brefeld und Kollegen im Vergleich zu vier anderen Modellen bessere Vorhersagewerte [5]. Ob die Pässe angekommen sind, konnte zu 88,5 % richtig vorhergesagt werden. Die Vorhersage für die abgefangenen Pässe scheint noch besser zu funktionieren. Hier konnten mit dem Modell 97,5 % aller abgefangene Pässe richtig bestimmt werden.  

Spencer et al. (2019) nehmen an, dass der Wert eines Passes vor allem in Bezug zu den Passalternativen bestimmt werden sollte [6]. Die Autoren sind in ihrer Studie also daran interessiert, die Passoptionen zu identifizieren. Sie lösen das, indem sie Wahrscheinlichkeiten bestimmen in einen Zweikampf zu geraten. Dazu erweitern sie die probabilistischen „Motion Models“ um eine weitere Variable, nämlich die der Zweikampfbeteiligung, und nennen dies „Commitment Modelling“. In der Studie von Spencer et al. (2019) wird der Zweikampf über den Ballbesitzwechsel definiert [6]. Ein Spieler ist dann am Zweikampf beteiligt, wenn er weniger als zwei Meter vom Ort des Geschehens (Ballbesitzwechsel) entfernt ist. Im Mittelpunkt der Analyse steht der Pass, der den Zweikampf provoziert und die möglichen Alternativen. Es zeigte sich, dass die Wahrscheinlichkeit in einen Zweikampf zu geraten mit steigender Bewegungsgeschwindigkeit sinkt und das Modell Passalternativen aufzeigen kann. Diese Studie wurde jedoch für die Teamsportart Australien Rules Football erstellt und es bleibt offen, ob diese Methode auch im Fußball anwendbar ist.

Das Ergebnis: Vorgestellt werden mathematische Modelle, die es ermöglichen, Räume fassbar zu machen:

  • probabilistische „Motion Models“ (Wahrscheinlichkeitsmodelle) sind genauere Schätzmodelle als geometrische Lösungsverfahren,
  • „Commitment Modelling“ beziehen die Gegenspieler mit ein und damit das Risiko eines Zweikampfes,
  • auf der Basis von „Motion Models“ wird derzeit an der Vorhersage von optimalen Laufwegen gearbeitet.
Die Inhalte basieren auf der Originalstudie "Probabilistic movement models and zones of control", die 2019 im Journal „Machine Learning" veröffentlicht wurde.

Literatur

  1. Brefeld, U., Lasek, J., & Mair, S. (2019). Probabilistic movement models and zones of control. Machine Learning, 108(1), 127-147.
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    1. Brefeld, U., Lasek, J., & Mair, S. (2019). Probabilistic movement models and zones of control. Machine Learning, 108(1), 127-147.

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    2. Taki, T., Hasegawa, J., & Fukumura, T. (1996). Development of motion analysis system for quantitative evaluation of teamwork in soccer games. In Proceedings of 3rd IEEE international conference on image processing, vol. 3, pp. 815 –818.

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    3. Taki, T.& Hasegawa, J. (2000). Visualization of dominant region in team games and its application to teamwork analysis. In Proceedings of the international conference on computer graphics, CGI ’00, pp. 227–235 , Washington, DC: IEEE Computer Society.

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    4. Fonseca, S., Milho, J., Travassos, B., & Araújo, D. (2012). Spatial dynamics of team sports exposed by voronoi diagrams. Human Movement Science, 31(6), 1652–1659.

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    5. Voronoi, G. (1908). Nouvelles applications des paramètres continus à la théorie des formes quadratiques. premier mémoire. Sur quelques propriétés des formes quadratiques positives parfaites. Journal für die reine und angewandte Mathematik, 133, 97–178.

    6. Spencer, B. Jackson, K., Bedin, T., and Robertson, S. (2019). Modeling the quality of player passing decisions in australian rules football relative to risk, reward, and commitment. Front Psychol, 10, 1777.

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    7. Nakanishi, R., Maeno, J., Murakami, K., & Naruse, T. (2009). An approximate computation of the dominant region diagram for the real-time analysis of group behaviors. In Robot soccer world cup, pp. 228–239. Springer.

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    8. Gudmundsson , J., & Wolle, T. (2014 ). Football analysis using spatio-temporal tools. Computers, Environment and Urban Systems, 47, 16–27.

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    9. Horton, M., Gudmundsson, J., Chawla, S., & Estephan, J. (2015). Automated classification of passing in football. In Pacific-Asia conference on knowledge discovery and data mining, pp. 319–330. Springer.

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    10. Link, D., Lang, S., & Seidenschwarz, P. (2016). Real time quantification of dangerousity in football using spatiotemporal tracking data. PLoS ONE, 11(12), 1–16.

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    11. Harmon, M., Lucey, P., & Klabjan, D. (2016). Predicting shot making in basketball learnt from adversarial multiagent trajectories. ArXiv e-prints.