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Die Macht des Momentums

Der psychologische Effekt eines Last-Minute-Tores

Die Spieler von Real Madrid feiern ihren überraschenden Sieg nach dem Halbfinalspiel der UEFA Champions League zwischen Real Madrid und Manchester City.
    • Ein Ausgleichstreffer kann eine Mannschaft, die im Rückstand liegt, enorm beflügeln. Allerdings spielt dafür der Zeitpunkt, zu dem der Ausgleichstreffer fällt, eine wichtige Rolle.
    • Das Momentum ist besonders hoch, wenn der Ausgleichstreffer buchstäblich in der letzten Minute fällt. 
    • Der Effekt ist zudem höher, wenn die eigene Mannschaft ein solches Last-Minute-Tor erzielt.
Abstract

Im Fußball wird mit „Momentum“ der Formanstieg einer Mannschaft oder auch der ausbleibende Torerfolg beschrieben. Ein Last-Minute-Tor hat einen besonders großen Effekt auf das psychologische Momentum. Das weist eine niederländisch-französische Studie nach. Demnach spielt der Zeitpunkt, zu dem der Ausgleichstreffer fällt, eine entscheidende Rolle. Die Erkenntnisse erklären, warum Euphorie und Verzweiflung nach einem Last-Minute-Tor in einem K.-o.-Spiel so nah beieinanderliegen.

Ein Tor zur richtigen Zeit beflügelt

Die eine Mannschaft liegt im Rückstand, schießt aber zum Ende des Spiels das Tor zum Ausgleich – und spielt sich in die rettende Verlängerung. Nicht nur die Fans sind euphorisch, auch die Spieler*innen liegen sich in den Armen. Sie haben eine spektakuläre Wende geschafft. Wird ihnen dieser Schwung am Ende zum Sieg verhelfen? Ja, sagen die Sportpsychologen Ruud Den Hartigh und Christophe Gernigon. In ihrer experimentellen Untersuchung mit 86 Fußballspielern haben die Forscher der Universitäten Groningen und Montpellier herausgefunden, dass vor allem der Zeitpunkt, zu dem das Tor zum Ausgleich erzielt wird, eine wichtige Rolle für das sogenannte Momentum spielt.

Was ist Momentum?

Im Fußball wird damit die gute Form einer Mannschaft beschrieben. „Sie haben das Momentum auf ihrer Seite“, sagen Kommentatoren häufig. Sie scheint alles richtig zu machen. In der Physik steht das Momentum für den Impuls, welcher den mechanischen Bewegungszustand eines Körpers charakterisiert. Allgemein wird mit Momentum der Zeitraum bezeichnet, in dem Entwicklungen in eine bestimmte Richtung laufen. Meist im positiven Sinne, wenn man einen Lauf hat und sich Erfolge scheinbar mühelos in Reihe einstellen. Auf der anderen Seite kann der Impuls aber auch verloren gehen. 

Sportpsychologen definieren diese mentale Dynamik als Wahrnehmung, dass man sich auf ein gewünschtes Ziel oder Ergebnis zubewegt (positives Momentum) oder davon entfernt (negatives Momentum) [1]. Das „psychologische Momentum“ stellt auf die verhaltensbezogenen Veränderungen ab, die ein/e Sportler*in oder eine Mannschaft währenddessen erfährt. Ein positives psychologisches Momentum erleben Sportler*innen, wenn sie sich auf den Sieg zubewegen, was zu mehr Selbstvertrauen, Motivation, Optimismus führt. Sie strengen sich in der Folge mehr an und bewegen sich effizienter. Ein negatives Momentum entwickelt sich, wenn sie sich von ihrem Ziel entfernen [2, 3]. Diesen Effekt konnten Den Hartigh und Gernigon in einer früheren Untersuchung mit zwei Rudermannschaften nachweisen: Die Mannschaft, die einen Rückstand aufgeholt hatte und mit sechs Sekunden Vorsprung in Führung lag, erlebte ein positives Momentum. Es verkehrte sich jedoch ins Gegenteil, als die Ruderer merkten, dass sie ihren Vorsprung verlieren und ihre Anstrengungen nahmen ab – bis sie am Ende wieder sechs Sekunden zurücklagen [4]. Auch in anderen Sportarten konnten Forscher*innen diesen Effekt beobachten.

Was löst das Momentum genau aus?

Wie das Momentum die sportliche Leistung genau beeinflusst, ist noch weitgehend ungeklärt. Auch weil Auslöser, Merkmale und Folgen dieses dynamischen Prozesses sich nur schwer voneinander trennen lassen [5]. In experimentellen Studien mit Fußballspielern waren Tore und Gegentore die am häufigsten genannten Spielvariablen, die ein psychologisches Momentum ausgelöst haben. Spieler*innen beschrieben ein positives Momentum häufig als „sich selbstbewusst fühlen“ oder „eine positive Einstellung haben“ und „als Team zusammenhalten“. Ein negatives empfanden sie meist als „Mangel an Fähigkeiten“ und als „Gefühl der Angst“ [5, 6]. Was sich in den Köpfen der Spieler*innen nach einem erzielten oder kassierten Tor abspielt, hängt aber offenbar auch von der Spielentwicklung sowie vom genauen Zeitpunkt oder der Entfernung vom Ende der Spielzeit ab.

Beeinflusst ein Last-Minute-Tor das psychologische Momentum der Spieler?

Um dies nachzuweisen, führten Den Hartigh und sein Team den 86 niederländischen Fußballspielern aus verschiedenen nationalen und regionalen Ligen die entscheidende Szene eines Pokalspiels der irischen Premier League vor, dass die Teilnehmer nicht kannten. Beide Mannschaften waren vor dem Spiel in der Saison schon einmal mit einem 2:2-Remis auseinandergegangen. Im aktuellen Spiel war das erste Tor in der 25. Minute gefallen; der Spielstand blieb bis in die zweite Halbzeit hinein unverändert. Die eine Hälfte der Probanden sollte sich vorstellen, ein Spieler der Mannschaft im 1:0 Rückstand zu sein, die andere Hälfte sollte sich in einen Spieler der Mannschaft in Führung einfühlen. Alle Probanden wurden je zur Hälfte gebeten, sich den Spielstand in der 60. Minute und in der 91. Minute vor Augen zu führen. Dann sahen sie einen Ausschnitt des Spiels, in dem die im Rückstand liegende Mannschaft den Ausgleichstreffer erzielte und wurden entsprechend zu ihren Empfindungen schriftlich befragt.

Das Ergebnis des Experiments: Ein Ausgleichstreffer in buchstäblich letzter Sekunde vor dem Abpfiff (92. Minute) hat einen höheren psychologischen Effekt als ein Tor zum Ausgleich zu Anfang der Halbzeit (61. Minute). Zudem war das psychologische Momentum stärker, wenn die eigene Mannschaft den Ausgleich erzielte. Wurde der Ausgleichstreffer in der 61. Minute erzielt, waren die Unterschiede ebenfalls signifikant, wenn auch weniger ausgeprägt. Aber auch hier war das Momentum stärker, wenn die eigene Mannschaft das Tor landete (ABB. 01).

Legendäre Momente wirken nach

Last-Minute-Tore zählen zu den legendären Momenten des Fußballs. Die Erkenntnisse von Den Hartigh und Gernigon erklären, warum. Die Spieler erreichen, was während der Zeit davor nicht machbar erschien. Das Erfolgserlebnis löst eine mentale Dynamik aus, die die Spieler beflügelt, ihr Selbstvertrauen steigert und sie zu höheren Leistungen anspornt. Das haben die beiden Sportpsychologen erstmals empirisch getestet. Sie konnten damit nachweisen, dass der Zeitpunkt, zu dem das Tor zum Ausgleich fällt, den psychologischen Effekt beeinflusst.

Interessant ist auch, dass der psychologische Effekt auch auf den Verlierer wirkt, für den der Sieg greifbar nahelag, aber letztlich doch nicht erreicht wurde. Das Verlieren wird in ein Beinahe-Erreichen („Wir hätten gewinnen können!“) umgedeutet. Diese Umdeutung funktioniert aber auch für die Mannschaft, die solange erfolglos zurücklag, mit einem positiven psychologischen Effekt: Wir hätten verlieren können, sind aber wieder im Spiel.

Mit dem negativen Momentum richtig umgehen

„Spieler*innen sollten Strategien an die Hand bekommen, die ihnen helfen, sich nach einem Ausgleich in letzter Minute wieder aufzurappeln“, empfehlen Den Hartigh und Gernigon mit Blick auf ihre Erkenntnisse. Ein solches Training könnte Spielern und Spielerinnen helfen, Rückschläge zu verarbeiten und mit damit behafteten negativen Emotionen umzugehen, um zu alter Form zurückzufinden.

Die Inhalte basieren auf der Studie “Psychological momentum in football: the impact of a last-minute equalizer in a knock-out match”, die 2019 in der Fachzeitschrift “Science and Medicine in Football” veröffentlicht wurde.

Literatur

  1. Den Hartigh, R. J., Van Yperen, N. W., & Gernigon, C. (2020). Psychological momentum in football: the impact of a last-minute equalizer in a knock-out match. Science and Medicine in Football, 4(3), 178-181.
    Studie lesen
    1. Adler, P., & Scott, M. B. (1981). Momentum, a theory of social action. Beverly Hills: Sage Publications.

    2. Briki, W., Doron, J., Markman, K. D., Den Hartigh, R. J., & Gernigon, C. (2014). Differential reactions of virtual actors and observers to the triggering and interruption of psychological momentum. Motivation and Emotion, 38(2), 263-269.

    3. Perreault, S., Vallerand, R. J., Montgomery, D., & Provencher, P. (1998). Coming from behind: On the effect of psychological momentum on sport performance. Journal of Sport and Exercise Psychology, 20(4), 421-436.

    4. Den Hartigh, R. J., Gernigon, C., Van Yperen, N. W., Marin, L., & Van Geert, P. L. (2014). How psychological and behavioral team states change during positive and negative momentum. PloS ONE, 9(5), e97887.

    5. Redwood-Brown, A. J., Sunderland, C. A., Minniti, A. M., & O’Donoghue, P. G. (2018). Perceptions of psychological momentum of elite soccer players. International Journal of Sport and Exercise Psychology, 16(6), 590-606.

    6. Jones, M. I., & Harwood, C. (2008). Psychological momentum within competitive soccer: Players' perspectives. Journal of Applied Sport Psychology, 20(1), 57-72.