Wissen
Erfolgsquoten beim Elfmeter
Das Zusammenspiel von Torhütern und Elfmeterschützen beeinflusst ihre Erfolgschancen
- Bei den Welt- und Europameisterschaften zwischen 1984 und 2016 landeten von 395 Elfmetern 289 Schüsse (73,2 %) im Tor, die restlichen 106 (26,8 %) wurden entweder abgewehrt oder verfehlten das Tor.
- Bei einem guten Drittel der ausgeführten Elfmeter (33,92 %) reagierten die Torhüter früh vor dem Ballkontakt des Schützen, bei zwei Dritteln (66,08 %) reagierten sie spät.
- Elfmeterschützen wandten in 27 % der ausgeführten Schüsse eine torwartabhängige und in 73 % der Fälle eine torwartunabhängige Strategie an.
- Die Erfolgsquoten der Elfmeterschützen waren ähnlich hoch (torwartunabhängig: 75 %, torwartabhängig: 72 %), hingen aber stark vom Verhalten des Torwarts ab.
Abstract
Bislang lautete die Empfehlung, Torhüter sollten sich besser spät entscheiden, wohin sie springen, um den Ball zu parieren; Elfmeterschützen sollten eher eine torwartunabhängige Strategie anwenden. Eine Studie hat die ausgeführten Elfmeter während der Welt- und Europameisterschaften zwischen 1984 und 2016 analysiert und die Erfolgsquoten von Torhütern und Schützen ermittelt.
Elfmeterschießen ist keine Glückssache
18 Quadratmeter groß ist die Fläche eines Fußballtors. Nur rund ein Viertel davon kann ein Torhüter abdecken, hat Prof. Dr. Metin Tolan errechnet [1]. „Es gibt einen großen Bereich außerhalb der Reichweite eines jeden Torhüters“, sagt der Physiker in einer FIFA-Dokumentation. Dennoch ist ein versenkter Elfmeter keine Glückssache. Statistische Auswertungen von KO-Spielen in Weltmeisterschaften und der Champions League [2] zeigen, dass 73 Prozent der geschossenen Elfmeter ins Tor gingen. Jeder Fünfte immerhin wurde aber gehalten.
„Elfmeterschützen verwandeln weniger Elfmeter als erwartet. Umgekehrt parieren Torhüter immer noch eine beträchtliche Anzahl von Elfmetern, obwohl sie eigentlich chancenlos sein müssten“, sagt Dr. Benjamin Noël, Sportwissenschaftler am Institut für Trainingswissenschaft und Sportinformatik der Deutschen Sporthochschule in Köln. Ihn beschäftigt die Frage, wie Torhüter und Elfmeterschützen ihre Erfolgsquoten verbessern können. Zusammen mit seinem Forschungsteam hat er nach der Erfolgsformel für das Elfmeterschießen gesucht.
„Bisherige Studien zum Elfmeterschießen haben sich in erster Linie auf die räumliche Entscheidungsfindung konzentriert“, erklärt Noël. „Die zeitliche Entscheidungsfindung aber wurde weitgehend vernachlässigt – obwohl sie für den Erfolg ebenso entscheidend ist.“
Auf das richtige Timing kommt es an
Denn das Zeitfenster, in dem der Torhüter entscheiden muss, wohin er hechtet, und der Schütze sich auf eine Schussstrategie festlegt, ist denkbar knapp. Etwa eine halbe Sekunde lang dauert es, bis ein mit straffem Vollspannstoß getretener Ball die Torlinie erreicht [3]. Ein Keeper braucht aber mindestens 0,6 Sekunden, um zu einer Seite zu springen und sogar bis zu einer ganzen Sekunde, um die obere Ecke des Tores zu erreichen [4]. Deshalb ist nicht nur die richtige Aktion, sondern auch das Timing der Entscheidung und Bewegungsausführung essentiell, um einen Elfmeter erfolgreich zu halten.
Bislang waren Forschende der Auffassung, dass ein gehaltener Elfmeter vor allem von der Fähigkeit des Torhüters abhängt, die Hinweise aus dem Anlauf des Schützen zu nutzen und für die richtige Aktion zu interpretieren. Studien haben gezeigt, dass Torhüter, die die Handlungen des Elfmeterschützen berücksichtigen und sich erst spät während des Anlaufs auf eine Seite des Tores festlegen, eine höhere Erfolgsquote haben [3, 5, 6].
Allerdings beeinflusst der Faktor Timing auch den Erfolg des Schützen. Entscheidet er bereits vor dem Anlauf, wohin er schießt, könnte der Torhüter theoretisch relativ früh reagieren – mit einer größeren Chance, den Ball rechtzeitig zu parieren. Gegen diese torwartunabhängige Strategie spricht allerdings, dass Torhüter gut platzierte und kraftvoll ausgeführte Schüsse in der Regel nur schwer erreichen können, auch wenn sie bereits früh reagieren [7, 8]. Alternativ entscheidet sich der Schütze erst im Anlaufen, während er die Hinweise aus dem Torhüterverhalten deutet, für eine Seite des Tors. Diese torwartabhängige Strategie ist angesichts des knappen Zeitfensters allerdings risikoreicher. Denn es bleibt ihm kaum Zeit, sich für die beste Platzierung des Balls zu entscheiden, wenn der Torhüter seine Bewegungsrichtung relativ spät andeutet. Das wiederum behindert den Schützen, einen präzisen und kraftvollen Schuss auszuführen [9].
Die Erfolgsformel steckt im Zusammenspiel
Was Torhüter und Elfmeterschützen also tun sollten, um ihre Erfolgsquoten zu erhöhen, betrachten Noël und Kollegen aus einem neuen Blickwinkel. Um zu verstehen, wie man einen Elfmeter am besten hält oder versenkt, dürfe man das Wohin und das Wann der Entscheidungsfindung der beiden Akteure nicht getrennt voneinander betrachten. Vielmehr komme es auf das zeitliche Zusammenspiel der Entscheidungsfindung von Torhüter und Schütze in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit voneinander an.
Dafür analysierten die Wissenschaftler Videoaufzeichnungen aller Elfmeter der Welt- und Europameisterschaften zwischen 1984 und 2016. Von den insgesamt 395 Elfmetern wurden 289 Versuche (73,2 %) erfolgreich verwandelt, die restlichen 106 (26,8 %) wurden entweder vom Torhüter abgewehrt oder verfehlten das Tor. Ermittelt wurden die jeweils gewählten Strategien der Elfmeterschützen (torwartabhängig oder torwartunabhängig) und die der Torhüter (frühe oder späte Aktion). Dazu wurden die mit den vier Strategien verbundenen Erfolgsquoten (versenkt oder gehalten) errechnet. Bewertet wurde schließlich der kombinierte Einfluss der Strategien von Torhütern und Elfmeterschützen auf die Trefferwahrscheinlichkeit, mit dem Ziel, das Zusammenspiel von Torhütern und Elfmeterschützen besser zu erklären.
Torhüter sollten häufiger früh reagieren
Das Ergebnis überrascht. Zwar haben die Videoanalysen gezeigt, dass erfahrene Torhüter – statt früh zu springen – eher dazu neigen, sich erst spät im Anlauf des Schützen für eine Seite zu entscheiden. Bei gut einem Drittel der ausgeführten Elfmeter (33,92 %) reagierten die Torhüter früh, also 200 Millisekunden oder länger vor dem Ballkontakt des Schützen. Bei zwei Dritteln (66,08 %) reagierten sie spät, etwa 160 Millisekunden oder später vor dem Ballkontakt des Schützen. Ein Befund, der sich mit bisherigen Forschungserkenntnissen deckt.
„Diese Strategie scheint allerdings angesichts der tatsächlichen Verteilung der Elfmeterstrategien besonders nachteilig zu sein“, sagen die Studienautoren. Mit dem Abwarten verlieren sie kostbare Zeit, um den Ball rechtzeitig zu parieren. „Für Torhüter scheint es vorteilhaft zu sein, häufiger früh zu agieren“, empfehlen die Forschenden.
Denn die Videoanalysen zeigten auch, dass die Elfmeterschützen nur bei 27 Prozent der ausgeführten Schüsse eine torwartabhängige Strategie anwandten, also ihre Entscheidung vom Verhalten des Torhüters abhängig machten. Hingegen wählten die Schützen in 73 Prozent der Fälle eine torwartunabhängige Strategie. Ein Befund, der mit bisherigen Beobachtungsstudien im Einklang steht, die zeigen, dass die torwartunabhängige Schussstrategie weniger riskant und effektiver ist [8, 10].
Elfmeterschützen sollten nicht immer früh schießen
Allerdings wurden Elfmeter erfolgreich im Tor versenkt, egal, ob sich der Schütze am Torhüterverhalten orientierte oder nicht. Die Analyse der Erfolgsquoten der Elfmeterschützen ergab, dass die torwartunabhängige und die torwartabhängige Strategie ähnlich erfolgreich waren, nämlich 75 zu 72 Prozent, aber stark vom Verhalten des Torwarts abhingen. „Berücksichtigt man, dass Torhüter sich bei zwei Dritteln der Elfmeter relativ spät entscheiden, ist es ratsam, die torwartunabhängige Strategie häufiger anzuwenden, da sie in diesen Fällen effektiver zu sein scheint“, sagen die Studienautoren. „Sie scheint jedoch weniger effektiv zu sein, wenn sich die Torhüter früh bewegen.“
Daher sei es von großer Bedeutung, die Torhüter im Unklaren darüber zu lassen, welche Elfmeterstrategie sie erwarten können. „Elfmeterschützen sollten ihre Schussstrategie zwischen den Versuchen variieren“, empfehlen die Studienautoren. Zwar weiß man aus der sportpsychologischen Forschung, dass eine torwartunabhängige Strategie dem Schützen mehr Sicherheit gibt, weil sie es ermöglicht, die Details des Schusses im Voraus zu planen, anstatt von unvorhersehbaren Verhaltensweisen des Torwarts abhängig zu sein [11]. „Unsere Analyse zeigt aber, dass die Verwendung einer torwartabhängigen Strategie unter bestimmten Umständen vorteilhafter sein kann“, so die Forschenden. Schützen könnten so vermeiden, dass sich Torhüter an ihre Vorlieben anpassen – eine Strategie, die Torhüter Jens Lehmann beim Elfmeterschießen im Viertelfinale der Weltmeisterschaft 2006 gegen Argentinien angewandt haben soll.
Unberechenbar bleiben
Mit ihrer statistischen Analyse der Elfmeter während der Welt- und Europameisterschaften zeigen die Studienautoren, dass beide Strategien mit einer ähnlichen Erfolgsquote verbunden waren. Noël und sein Team geben damit Trainern und Trainerinnen neue Belege zu bestehenden Empfehlungen an die Hand, wie sie die Leistung von Torhüter wie Schützen beim Elfmeterschießen verbessern können. Ihre Erfolgsformel für beide Akteure lautet: Häufiger die Strategie wechseln.
Einschränkungen durch Regeländerung
Zur Saison 2019/20 hat das International Football Association Board (IFAB) eine Regeländerung hinsichtlich des Verhaltens der Torhüter*innen während des Elfmeters vorgenommen, die im Untersuchungszeitraum der Studie noch nicht galt. Seit dieser Änderung ist es Torhütern gestattet, bereits vor dem Schuss einen Fuß vor die Torlinie zu setzen, solange sich der zweite Fuß noch auf bzw. hinter der Linie befindet (zuvor mussten sich beide Füße auf oder hinter der Linie befinden, bis der Ball geschossen wurde). Eine kürzlich durchgeführte Untersuchung unter Laborbedingungen konnte bereits zeigen, dass diese Regeländerungen Torhütern zu Gute kommen kann, da sie dadurch die Möglichkeit haben, signifikant schneller und kraftvoller abzuspringen [12]. Der wissenschaftliche Nachweis in der Praxis steht allerdings noch aus und bildet den Ausgangspunkt für weiterführende Studien.
Die Inhalte basieren auf der Studie „The interplay of goalkeepers and penalty takers affects their chances of success“, die 2021 im Fachjournal „Frontiers in Psychology“ veröffentlicht wurde
Diese Studie teilen:
Literatur
- Noël, B., Van der Kamp, J., & Klatt, S. (2021). The interplay of goalkeepers and penalty takers affects their chances of success. Frontiers in Psychology, 12, 645312.Studie lesen
Tolan, M. (2013). Manchmal gewinnt der Bessere: die Physik des Fußballspiels. Piper Verlag.
Hughes, M., & Wells, J. (2002). Analysis of penalties taken in shoot-outs. International Journal of Performance Analysis in Sport, 2(1), 55-72.
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Jordet, G., Gemser, M. E., & Lemmink, K. P. (2006). The 'Russian roulette' of soccer?: Perceived control and anxiety. International Journal of Sport Psychology, 37, 281-298.
Monteiro, R. L. M., Bedo, B. L. S., Monteiro, P. H. M., de Andrade, F. D. S. P., Moura, F. A., Cunha, S. A., Torres, R. D. S., Memmert, D., & Santiago, P. R. P. (2022). Penalty feet positioning rule modification and laterality effect on soccer goalkeepers' diving kinematics. Scientific reports, 12(1), 18493.
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