Wissen
Heimvorteil gestern und heute
Historische Datenanalyse zeigt schrumpfenden Effekt von Reisen auf sportliche Leistungen
- Der Heimvorteil ist deutlich nachweisbar – auch wenn der Spielort nicht weit entfernt liegt.
- Der Effekt resultiert aus Faktoren wie Fan-Unterstützung, Vertrautheit mit der Umgebung und gewohnte Routinen sowie der geringeren Reisebelastung.
- Bis zu einer Entfernung von etwa 100 Kilometern steigt der Heimvorteil mit der Reisestrecke der Gastmannschaft – darüber hinausgehende Strecken führen nicht mehr zu einer weiteren Erhöhung des Effekts.
- In der historischen Betrachtung ist der Rückgang des Heimvorteils bei großen Entfernungen deutlich stärker ausgeprägt als bei kurzen Strecken zum Auswärtsspiel.
- Höchstwahrscheinlich sind die deutlich verbesserten Reisebedingungen die Hauptursache für den gesunkenen Heimvorteil.
Abstract
Eine historische Datenanalyse der Spielstatistik der Bundesliga zeigt: Es gibt einen deutlichen Zusammenhang zwischen Reisedistanz und Heimvorteil. Der Einfluss der geografischen Entfernung vom Heim- zum Auswärtsspielort hat sich jedoch in den letzten Jahren reduziert. Erklärungen hierfür könnten verbesserte Reisebedingungen, eine größere Anzahl auswärtiger Fans oder die stetige Professionalisierung und Internationalisierung des Fußballs sein. Die Studie hat die Heim- und Auswärtsspiele der ersten Bundesliga über einen Zeitraum von 57 Jahren von 1964 bis 2020 auf einen von der Reisedistanz abhängigen Heimvorteil untersucht.
Erfolgsfaktor Heimvorteil
Profifußballmannschaften gewinnen häufiger, wenn sie im heimischen Stadion spielen. Der sogenannte Heimvorteil ist ein wissenschaftlich gut belegtes Phänomen und in allen Ligen der Welt statistisch nachgewiesen. In den europäischen Ligen liegt das Verhältnis von Heimsieg, Unentschieden und Auswärtssieg in etwa bei 50:25:25. In der Bundesliga ist der Heimvorteil etwas weniger ausgeprägt: In 47 von 100 Spielen gewinnt die Heimmannschaft, aber in 28 von 100 die Auswärtsmannschaft, stellen Datenanalysierende der Deutschen Sporthochschule Köln und der Universität Paderborn fest [1]. Im weltweiten Vergleich sind die Unterschiede jedoch beträchtlicher. In Nigeria liegt die Heimsiegquote bei Fußballspielen bei 86,8 Prozent, laut einer Studie, die den Heimvorteil in 157 nationalen Fußballligen auf der ganzen Welt in sechs Spielzeiten zwischen 2006 und 2012 untersucht hat. In San Marino aber nur bei 48,6 Prozent [2].
Was beeinflusst den Effekt?
Bei der Ursachenforschung, was genau den Heimvorteil ausmacht, führt die Wissenschaft inzwischen eine Reihe von möglichen Gründen an. Dazu gehören die Anzahl der Zuschauenden und die lautstarke Unterstützung der heimischen Fans, die die eigene Elf anfeuern. So konnten britische Forschende mithilfe von Speicheltests bei Fußballspielern einen höheren Testosteronspiegel vor einem Heimspiel nachweisen als vor einem Auswärtsspiel. Ein Beleg für eine Art Revierverhalten: Wer zu Hause spielt, verteidigt sozusagen das eigene Territorium [3]. Belegt ist weiterhin, dass der Heimvorteil mit der Zahl der Zuschauenden steigt und dass auch die Schiedsrichter sich vom Publikumslärm beeindrucken lassen. Eine Vergleichsstudie mit und ohne Publikumsreaktionen fand heraus, dass Schiedsrichter mit dem Lärm der Fans im Ohr deutlich weniger Fouls der Heimmannschaft (15,5 %) ahnden als die der Gäste [4].
Andererseits ist auch bei den Geisterspielen während der Corona-Pandemie der Heimvorteil nicht verschwunden, als die Partien vor leeren Rängen ausgetragen wurden. Obwohl sich Parameter wie Torschüsse, Gelbe und Rote Karten anglichen, beide Mannschaften ähnlich offensivstark agierten und Schiedsrichter unbeeindruckt entscheiden konnten, blieb der Heimvorteil im Vergleich mit Vor-Corona-Zeiten bestehen, so das zentrale Ergebnis einer Studie der Deutschen Sporthochschule Köln und der Universität Paderborn [1]. Das Phänomen Heimvorteil könne demnach nicht allein mit dem positiven Einfluss der sozialen Unterstützung durch Zuschauende erklärt werden, bilanziert die Autorenschaft der Studie. Andere Faktoren seien auch ausschlaggebend: Die Gastmannschaft ist von der Anreise ermattet, Umgebung und Spielbedingungen sind ungewohnt, das Klima ist anders, die Kultur ist fremd, und die Entfernung zum Austragungsort ist so groß, dass nur wenige Fans mitreisen können.
Reisen und sportliche Leistung
Für die Forschung und die Fußballpraxis sind Reisen und ihre Auswirkungen von besonderem Interesse, weil die Mannschaften im Profifußball nicht nur häufig, sondern durchaus auch weit zu Auswärtsspielen reisen. Auch wenn sich die einzelnen Reiseeffekte quantitativ schwer von anderen Einflüssen trennen und nachweisen lassen, beschäftigen sich zahlreiche Studien mit dem Thema. Australische Forschende haben herausgefunden, dass das Reisen zu Wettbewerben abhängig von der Reisedistanz und der Anzahl der überquerten Zeitzonen einen signifikanten Einfluss auf die Leistung der Spielenden hat und sich Reiseeffekte wie Jetlag stärker auf den Heimvorteil auswirken als die Unterstützung durch die Zuschauenden [5]. Reisemüdigkeit kann die Spielenden nicht nur körperlich, sondern auch physisch und psychisch mehr beeinträchtigen als die gewöhnliche Trainings- und Wettkampfbeanspruchung [6].
Der Einfluss von Reisen auf den Heimvorteil wurde in vielen Ländern weltweit untersucht – mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Der Heimvorteil kann in abgelegenen Gebieten wie Australien oder Brasilien ungewöhnlich hoch, in bestimmten Regionen Europas wie dem Balkan sehr ausgeprägt und bei Lokalderbys sehr niedrig sein. Spielen also geografische Entfernungen eine Rolle und beeinflussen indirekt Faktoren wie Revierverhalten, Vertrautheit mit heimischen Spielbedingungen oder Anzahl der mitgereisten Fans?
Entfernungsabhängige Einflüsse auf dem Heimvorteil
Dieser Frage widmet sich eine Studie, die den Einfluss der geografischen Entfernung von der Heimspielstätte zum Austragungsort auf den Heimvorteil bei der deutschen Fußball-Bundesliga über einen Zeitraum von 57 Jahren untersucht. Die statistische Analyse der Spielergebnisse der ersten Bundesliga der Männer aus den Jahren 1964 bis 2020 bestätigt bestehende Forschungserkenntnisse. „Der Heimvorteil ist früher wie heute deutlich nachweisbar und existiert auch bei vernachlässigbaren Entfernungen“, schreibt Studienautor Nils Beckmann von der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe. Was die historische Betrachtung aber auch zeigt: Spiele vor dem heimischen Publikum beflügeln Mannschaften heutzutage deutlich weniger als noch vor 30 Jahren.
„Der Einfluss der Reisedistanz scheint sich in den letzten Jahren reduziert zu haben“, stellt der Forscher fest. In den Jahren vor 1990 trug die geografische Entfernung etwa zur Hälfte zum Heimvorteil bei, verglichen mit einer Situation ohne Heim- und Auswärtsvorteil. Heute habe sich der entfernungsabhängige Beitrag ungefähr halbiert und sei heute auf eine unbedeutende Einflussgröße gesunken.
In der historischen Rückschau ist der Rückgang des Heimvorteils bei großen Entfernungen deutlich größer als bei kurzen Strecken zum Auswärtsspiel. Jenseits einer Reisestrecke von etwa 100 Kilometern verliert die geografische Entfernung ihren statistischen Einfluss auf den Heimvorteil. Während sich die Befunde mit Erkenntnissen früherer Studien zum Einfluss der Entfernung auf den Heimvorteil in Deutschland [7], England, Italien oder die Türkei decken, sind die Gründe für diese Entwicklung weniger klar.
Warum schwindet der Heimvorteil?
Eine Erklärung könnten verbesserte Reisebedingungen sein. Waren früher Reisen strapaziöser, sind die Mannschaften inzwischen komfortabler unterwegs, was die Ausstattung von Flugzeugen, Bussen und Unterkünften anbetrifft. Heute steht im Profibereich mehr Geld zur Verfügung, um stressfreier zu reisen. Das decke sich mit früheren Befunden, wonach bei unteren Spielklassen mit kleineren Reisebudgets höhere Heimvorteile festgestellt wurden [8]. Auch sind Fans mobiler geworden und reisen häufiger in größerer Zahl mit ihrer Mannschaft zu weiter entfernten Spielorten, um sie beim Auswärtsspiel zu unterstützen, was den Heimvorteil der Gastgeber verringern und Schiedsrichterentscheidungen beeinflussen könnte.
Ein anderer Erklärungsversuch setzt beim Phänomen der Territorialität oder dem Revierverhalten an. Aus der Verhaltensforschung ist bekannt, dass der Besitzanspruch mit der Entfernung vom Zentrum des eigenen Territoriums abnimmt. Entsprechend könnte auch die Aggression der Auswärtsmannschaft jenseits einer gefühlten Territorialgrenze sinken, die laut Studienautor Beckmann im Einklang mit der festgestellten gesättigten Einflussstärke der geografischen Entfernung auf den Heimvorteil bei etwa 100 Kilometern um das Heimstadion liegt. Dem halten Sportwissenschaftler entgegen, dass Spieler und Schiedsrichter heute psychologisch besser trainiert und resilienter sind. Die Internationalisierung des Sports könnte dazu geführt haben, dass Spieler weniger emotional an ein Heimstadion gebunden sind, es gewohnt sind, Spielstätten und Vereine zu wechseln, und die Vertrautheit mit gewohnten Spielbedingungen nicht mehr ins Gewicht fällt. „Somit könnte eine Veränderung der Territorialität über die Jahrzehnte eine indirekte Ursache für den gesunkenen Einfluss der Entfernung sein“, vermutet Beckmann.
Schließlich könnte auch die Regeländerung in Bezug auf Punkte pro Sieg eine Rolle spielen, die in der ersten deutschen Fußball-Bundesliga der Männer zwischen 1994 und 1995 vorgenommen worden ist. Die Erhöhung der Punkte pro Sieg von zwei auf drei hatte sich schon in England, wo die Änderung schon 1981 eingeführt wurde, negativ auf das Verhältnis zwischen Heim- und Auswärtssiegen niedergeschlagen [9]. Forscher vermuten, dass sich damit der Anreiz für Auswärtsteams verringert hat, sich mit einem Unentschieden zufrieden zu geben. Beckmanns Analyse zufolge hat dieser Faktor allerdings für die deutsche Bundesliga wenig Erklärungskraft.
Fazit
„Obwohl der Einfluss der Entfernung auf die Leistung einer Mannschaft im Laufe der Jahrzehnte abgenommen hat, ist es auch heute noch bemerkenswert, dass Trainer Entfernungen und Reisen als Faktoren für die Spielleistung der Mannschaft betrachten“, sagt Beckmann. Trotz zahlreicher Studien zum Thema, kann die Ursachenforschung das Phänomen Heimvorteil noch nicht abschließend erklären und nennt weiteren Forschungsbedarf. Aber vielleicht muss auch nicht alle Magie des Fußballs entzaubert werden.
Die Inhalte basieren auf der Studie „Statistical influence of travelling distance on home advantage over 57 years in the men’s German first soccer division“, die 2022 im „German Journal of Exercise and Sport Research” veröffentlicht wurde
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Literatur
- Beckmann, N. (2022): Statistical influence of travelling distance on home advantage over 57 years in the men’s German first soccer division. German Journal of Exercise and Sport Research, 52, 657-665.Studie lesen
Wunderlich, F., Weigelt, M., Rein, R., & Memmert, D. (2021). How does spectator presence affect football? Home advantage remains in European top-class football matches played without spectators during the COVID-19 pandemic. Plos ONE, 16(3), e0248590.
Pollard, R., Gómez, & M.A. (2013). Components of home advantage in 157 national soccer leagues worldwide. International Journal of Sport and Exercise Psychology. 12(3), 218-233.
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Oberhofer, H., Philippovich, T., & Winner, H. (2010). Distance matters in away games: Evidence from the German football league. Journal of Economic Psychology, 31(2), 200-211.
Leite, W., & Pollard, R. (2018). International comparison of differences in home advantage between level 1 and level 2 of domestic football leagues. German Journal of Exercise and Sport Research, 48(2), 271-277.
Jacklin, P. B. (2005). Temporal changes in home advantage in English football since the Second World War: What explains improved away performance? Journal of Sports Sciences, 23(7), 669-679.
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