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Keine Fans – kein Druck: Schiedsrichterentscheidungen während der COVID-19-Pandemie

Bei Geisterspielen verschwindet der Heimvorteil

Schiedsrichter Robert Schröder zeigt dem Dortmunder Mats Hummels die gelbe Karte.
    • Heimmannschaften wurden in Geisterspielen signifikant häufiger mit Gelben Karten für Fouls bestraft als in regulären Spielen.
    • Dieser Effekt war unabhängig vom aktuellen Spielstand (Führung, Rückstand, Unentschieden).
    • Verwarnungen aus anderen Gründen (Kritik und unsportliches Verhalten) veränderten sich in Geisterspielen für Heim- und Auswärtsmannschaften gleichermaßen.
    • In Geisterspielen sanken die Leistungen der Heimmannschaften und der übliche Heimvorteil verschwand.
Abstract

Die Abwesenheit von Fans in Fußballstadien nimmt Schiedsrichterinnen und Schiedsrichtern den sozialen Druck, was zu objektiveren Entscheidungen und weniger Heimsiegen führt. Das wurde in einer Analyse von mehr als eintausend Matches europäischer Elite-Fußballligen mit und ohne Fans (Geisterspiele) herausgefunden. Bei leeren Fußballstadien während der COVID-19-Pandemie bekamen die Heimmannschaften deutlich mehr Gelbe Karten für Fouls, was auch den Heimvorteil stark schmälerte. Um Schiedsrichterteams bei regulären Spielen gegen die unbewusste Bevorteilung von Heimteams zu schulen, schlagen die Studienautoren den Einsatz von technologischen Hilfsmitteln wie „Virtual Reality“ vor.

Geisterspiele aus sportpsychologischer Perspektive

Aufgrund der COVID-19-Pandemie spielten die europäischen Elite-Fußballligen die letzten Runden der Saison 2019/2020 ohne (oder mit stark eingeschränkter) Anwesenheit von Fans („Geisterspiele“). Aus sportpsychologischer Perspektive stellt diese Situation eine einzigartige Gelegenheit dar, den Einfluss der Zuschauer auf das Verhalten und die Leistung von Sportprofis zu untersuchen. Eine aktuelle Studie von Leitner und Richlan untersuchte nun Schiedsrichterentscheidungen und den damit verbundenen Effekt auf den „Heimvorteil“.

Insgesamt wurden 1.286 Fußballspiele in europäischen Elite-Fußballligen (Spanien, England, Deutschland, Italien, Russland, Türkei, Österreich und Tschechische Republik) der Saison 2018/2019 und der Saison 2019/2020 analysiert. Zu einer Hälfte handelte es sich um Matches mit Fans, zur anderen Hälfte um die korrespondierenden Spieltage – coronabedingt – ohne Fans. Die Pandemie bot diese einmalige Vergleichsmöglichkeit. Die Wissenschaftler untersuchten Statistiken zur Anzahl der gegebenen Gelben Karten sowie die Spielergebnisse.

Die Ergebnisse

Schiedsrichter, die Geisterspiele leiteten, vergaben an Spieler der Heimmannschaften um ein Viertel mehr Gelbe Karten wegen Fouls (plus 26,2%, bzw. zahlenmäßig plus 238) als Schiedsrichter, die in der regulären Saison vor vollen Rängen der Heimmannschaften agierten. Für Spieler der Gästeteams hingegen blieb die Anzahl der Gelben Karten in den beiden Saisons praktisch unverändert bzw. war nur marginal erhöht (plus 2,8%, bzw. zahlenmäßig plus 28 Gelbe Karten). Ebenso gab es keine Unterschiede zwischen den Heim- und Auswärtsteams bei Gelben Karten für Kritik oder Unsportlichkeit (siehe ABB. 01).

Der Befund, dass Heimmannschaften in Geisterspielen plötzlich so viel mehr gelbe Karten nur für Fouls erhielten, war überraschend Die Vermutung liegt nahe, dass dies auch eine Erklärung dafür ist, warum Heimmannschaften bei Geisterspielen deutlich öfter verloren, als bei regulären Spielen [1]. Betrug der Prozentsatz der gewonnenen Heimspiele in der regulären Saison 2018/2019 mit Fans 48,1%, sank er bei den Geisterspielen auf 39,8%. Das ist ein Minus von 8,3%. Umgekehrt gewannen die Mannschaften bei Auswärtsspielen um 8,4% öfter; die Zahl der Unentschieden blieb nahezu gleich (siehe ABB. 02).

Gelbe Karten und Heimvorteil

Doch warum erhielten die Heimmannschaften bei Geisterspielen mehr Gelbe Karten für Fouls? War dafür vielleicht der Spielstand bzw. eine drohende Niederlage ausschlaggebend? „Die Statistiken zeigen, dass die Heimmannschaften unabhängig vom Spielstand häufiger bestraft wurden, sodass die gelben Karten für Fouls offenbar nicht das Ergebnis eines aggressiveren Spiels als Ausgleich für eine drohende Niederlage waren“, erklären die Studienautoren Michael Leitner und Fabio Richlan.

Die beiden Forscher kommen zu dem Schluss, dass bei dem von der Wissenschaft bereits vielfach bestätigten Heimvorteil [2-4] zwar auch Faktoren, wie die emotionale Unterstützung der Spieler der Heimmannschaft durch voll besetzte Tribünen eine wichtige Rolle spielen, dass aber die unbewusste Bevorzugung durch die Schiedsrichterteams eine der maßgebendsten Komponenten ist, warum Heimmannschaften tendenziell häufiger gewinnen als Auswärtsmannschaften. Ähnliche Effekte konnten in sehr kleinem oder experimentellem Rahmen bereits in früheren Studien gezeigt werden. Diese Analyse ist nun eine der ersten groß angelegten wissenschaftlichen Arbeiten, die diese Zusammenhänge in einem europäischen Kontext nachweisen konnte.

Keine pauschale Kritik am Schiedsrichterwesen

Als Kritik an der Tätigkeit der Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter – egal welcher Sportart – soll die Studie nicht verstanden werden. Die Studienautoren: „Der Druck auf die Schiedsrichterteams ist heutzutage unglaublich hoch und die Aufgabe ist enorm anspruchsvoll. Wir sind selbst begeisterte Sportler und respektieren die wertvolle Arbeit der Schiedsrichter in höchstem Maß.“

Vielmehr diene die Erforschung der Schiedsrichterpsychologie vor dem Hintergrund von Geisterspielen dazu, menschliches Erleben und Verhalten noch besser zu verstehen. Neben den Schiedsrichterteams stehen auch die Spieler selbst im Fokus der Forschung [5]. Zahlreiche psychologische Studien und Experimente haben gezeigt, wie menschliche Entscheidungen durch Gruppenzwang manipuliert werden können. Aus evolutionärer Sicht sind wir Menschen Rudeltiere und daher hängen unsere Entscheidungen stark von unserer Umgebung, der Situation und den anwesenden Personen ab. Je mehr wir über die Schwachstellen in der menschlichen Psyche wissen, die zu Konformität führen, desto wirksamere Interventionen und Gegenmaßnahmen können entwickelt werden.

In der Studie wird vorgeschlagen, Schiedsrichterteams in der Aus- und Weiterbildung mittels virtueller Realität zu sensibilisieren und ihnen so Strategien zur Überwindung des sozialen Drucks an die Hand zu geben. Die Virtual Reality ermöglicht es Benutzerinnen und Benutzern über ein Head-Mounted Display, in eine sehr erlebnisnahe digitale Umgebung einzutauchen. Die Technologie erfreut sich zunehmender Beliebtheit, ob in der Unterhaltung, der Bildung, der Medizin oder im Sport. Aus diesem Grund ist es ebenso denkbar, diese Technologie dafür zu nutzen, um Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter auf Spiele mit mehreren zehntausend Fans realistisch und systematisch vorzubereiten.

Die Inhalte basieren auf der Originalstudie "No fans – no pressure: referees in professional football during the COVID-19 pandemic.", die 2021 in „Frontiers in Sports and Active Living" veröffentlicht wurde.

Literatur

  1. Leitner, M. C., & Richlan, F. (2021). No fans-no pressure: referees in professional football during the COVID-19 pandemic. Frontiers in Sports and Active Living, 3, 720488.
    Studie lesen
    1. Leitner, M. C., Daumann, F., Follert, F., & Richlan, F. (2022). The cauldron has cooled down: a systematic literature review on home advantage in football during the COVID-19 pandemic from a socio-economic and psychological perspective. Management Review Quarterly, 1-29.

    2. Carron, A. V., Loughhead, T. M., & Bray, S. R. (2005). The home advantage in sport competitions: Courneya and Carron's (1992) conceptual framework a decade later. Journal of sports sciences, 23(4), 395-407.

    3. Jamieson, J. P. (2010). The home field advantage in athletics: A meta‐analysis. Journal of Applied Social Psychology, 40(7), 1819-1848.

    4. Pollard, R. (2008). Home advantage in football: A current review of an unsolved puzzle. The open sports sciences journal, 1(1), 12-14.

    5. Leitner, M. C., & Richlan, F. (2021). Analysis System for Emotional Behavior in Football (ASEB-F): matches of FC Red Bull Salzburg without supporters during the COVID-19 pandemic. Humanities and Social Sciences Communications, 8(1), 1-11.