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„Women are not small men“: Psychologische Faktoren im Frauenfußball

Überblicksarbeit untersucht Zusammenhang mit Leistungsniveau

Lena Lattwein vom VfL Wolfsburg und Alexia Putellas vom FC Barcelona in Aktion während des UEFA Women's Champions League-Spiels im Camp Nou.
    • Ein aufgabenorientiertes Klima hängt positiv mit sportlicher Leistung zusammen.
    • Mentale Stärke, Gewissenhaftigkeit, exekutive Funktionen und Ängstlichkeit scheinen gut zwischen verschiedenen Leistungsniveaus im Frauenfußball unterscheiden zu können.
    • Der genaue Grund für einen Zusammenhang (Entwicklungs- vs. Selektionshypothese) bleibt offen.
    • Zukünftige Studien zum Zusammenhang zwischen psychologischen Faktoren und sportlicher Leistung im Frauenfußball sollten größere Stichproben verwenden und sich – wenn möglich – stärker an wissenschaftlichen Kriterien orientieren.
Abstract

Nur wenige Studien im Fußball befassen sich auch mit Spielerinnen. Im Rahmen einer systematischen Übersichtsarbeit fasst ein Autorenteam bis dato existierende Studien zusammen, die den Zusammenhang zwischen psychologischen Faktoren und dem sportlichen Leistungsniveau überprüft haben. Dabei werden 14 Studien einbezogen, welche insgesamt 1449 Teilnehmerinnen und 15 psychologische Faktoren betrachten. Die Ergebnisse zeigen, dass Spielerinnen mit höherem Leistungsniveau tendenziell höhere Werte bezüglich mentaler Stärke, Gewissenhaftigkeit und exekutiver Funktionen sowie niedrigere Werte bzgl. Ängstlichkeit aufweisen. Zudem scheint Freude und ein wahrgenommenes motivationales Klima der Aufgabenorientierung mit höherer Leistung und Kompetenzwahrnehmung einherzugehen. Da nur sehr wenige Studien mit teils geringer Anzahl an Teilnehmerinnen existieren, fordern die Autorinnen mehr und größere Studien, um den Zusammenhang und die Wirkrichtung zwischen psychologischen Faktoren und sportlicher Leistung im Frauenfußball herauszustellen.

Frauenfußball: Immer populärer & chronisch unterforscht

22.04.2022: Die Frauenmannschaft des VfL Wolfsburg tritt vor mehr als 90.000 Zuschauern im Camp Nou gegen den FC Barcelona an.
Mai 2022: Der Tarifvertrag für eine gleiche Bezahlung für Männer und Frauen im US-Fußball steht

An den Beispielen wird nicht nur deutlich, dass der Frauenfußball (a) an Popularität gewinnt und (b) die Aufmerksamkeit und (finanzielle) Wertschätzung steigt. Jenseits der öffentlichen Wahrnehmung ist festzuhalten, dass lediglich ca. 25% der veröffentlichten Studien im Fußball auch Frauen berücksichtigten. Zeitgleich nimmt der relative Anteil der Männer an den Studienteilnehmenden in den letzten 10 Jahren zu [1]. Doch auch in der wissenschaftlichen Literatur mehren sich die Stimmen, dass Frauen nicht ‚kleine Männer‘ seien („Women are not small men“ [2]) und es deshalb spezifische Forschung zu Frauen im Sport, z. B. im Frauenfußball, geben sollte. Diese Forschung hat sich in den letzten Jahren intensiviert, wenngleich der Fokus weniger auf psychologische, denn auf physiologische und taktische Aspekte gelegt worden ist [3].

Relevanz psychologischer Faktoren

Eine systematische Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2020 [4] zeigt die Relevanz verschiedener psychologischer Faktoren (z. B. Aufgabenorientierung, perzeptuell-kognitive Fähigkeiten) für die zukünftige fußballerische Leistung – wenngleich mit der Einschränkung kleiner Effektstärken und großer Unsicherheit nach der GRADE-Methodik. Da diese Übersichtsarbeit lediglich eine Studie mit Spielerinnen berücksichtigt, hat ein Autorenteam aus Norwegen eine systematische Übersichtsarbeit zur Frage „Welche psychologischen Faktoren hängen mit der Leistung im Frauenfußball zusammen“ erstellt.

Nur wenige Studien vorhanden

Damit ansatzweise eine Vergleichbarkeit der Studien gegeben ist, entschied das Autorenteam, lediglich Studien einzubeziehen, die (a) Fußballspielerinnen älter als 15 Jahre und (b) sowohl Leistungsparameter als auch psychologische Faktoren untersuchten. Zudem war Voraussetzung, dass diese Studien (c) in Peer-Review-Journalen oder als Doktorarbeiten, auf (d) Englisch oder Norwegisch veröffentlicht wurden. Letztlich wurden auch nur (e) quantitative Studien einbezogen, d. h., Studien, welche standardisiert Daten erheben und sich statistischer Methoden bedienen. Somit betrachtet das Autorenteam insgesamt 14 Studien mit 1449 Spielerinnen und 15 verschiedenen psychologischen Faktoren. 

Höherklassig spielende Spielerinnen sind mental stärker, gewissenhafter und weniger ängstlich

In einzelnen Studien konnte gezeigt werden, dass höherklassig spielende Spielerinnen bessere Werte in Bezug auf mentale Stärke („Mental Toughness“) aufweisen als Spielerinnen aus niedrigeren Spielklassen [5, 6]. Eine Studie, welche sich die Big-5-Persönlichkeitsmerkmale (Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Neues, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit) näher anschaut, findet, dass lediglich Gewissenhaftigkeit als Prädiktor für sportliche Leistung (via Spieldaten) gilt, während Gewissenhaftigkeit und (negativ) Neurotizismus die sportliche Leistung (via Trainerurteil) erklärt [7]. Letztlich scheinen höher spielende Fußballspielerinnen ebenfalls weniger ängstlich zu sein als Spielerinnen aus unteren Ligen [6].

Schneller im Kopf = bessere Fußballerin?

Ein weiterer Faktor im Rahmen der systematischen Übersichtsarbeit sind perzeptuell-kognitive Fertigkeiten, welche auch im Männerfußball diskutiert werden [8]. Im Frauenfußball zeigen sich Tendenzen, dass höherklassig spielende Frauen bessere exekutive Funktionen [9] sowie bessere Antizipationsleistungen [10] zeigen als Spielerinnen aus niedrigeren Ligen. Dies scheint Erkenntnisse aus dem Bereich des Männerfußballs grundsätzlich widerzuspiegeln [11].

Relevanz der Atmosphäre

In zwei der 14 Studien konnte festgestellt werden, dass ein sogenanntes „Mastery Climate“, d. h., Fokus auf das Bewältigen einer Aufgabe und persönliches Verbessern (im Gegensatz zum Fokus auf das Gewinnen gegen andere) mit höherer wahrgenommener Kompetenz, Freude und intrinsischer Motivation [12] und Leistungserbringung unter Druck [13] einhergeht. Interessanterweise gab es in einer Studie einen negativen Zusammenhang zwischen wahrgenommenem Teamzusammenhalt und Leistungswahrnehmung der Spieler [14].

Aussagekraft begrenzt

Da nur 14 Studien berücksichtigt werden konnten, stellt das Autorenteam fest, dass die Aussagekraft ihrer systematischen Übersichtsarbeit begrenzt ist. Dies zeigt sich zudem an ihrer Qualitätsbeurteilung der Studien, welche insgesamt (angelehnt an GRADE-Methodik) einen Mittelwert von 22,79 (bei einem möglichen Maximalwert von 40) vom Autorenteam bzgl. ihrer Qualität erhalten. Zudem wird angeführt, dass die Studien alle aus dem amerikanischen und nordeuropäischen Raum stammen und somit eine Generalisierbarkeit nicht gewährleistet sei. Außerdem ist wichtig, zu betonen, dass die persönlichkeitsbezogenen Maße (z. B. Ängstlichkeit, BIG-5) über Selbstauskunftsfragebogen erfasst worden sind und entsprechenden Verzerrungen unterliegen können.

Entwicklung oder Selektion?

Für die Wissenschaft und Praxis stellt sich zudem die Frage, worauf sich die gefundenen Zusammenhänge zurückführen lassen. So kann es zum einen sein, dass die Spielerinnen in den höheren Ligen aufgrund ihrer besseren mentalen Stärke, ihrer besseren kognitiven Fertigkeiten, ihrer höheren Gewissenhaftigkeit und geringeren Ängstlichkeit dieses Level erreicht haben. Auf der anderen Seite ist es auch denkbar, dass die Spielerinnen durch das Spielen auf diesem Leistungsniveau eine bessere mentale Stärke, bessere kognitive Fertigkeiten, höhere Gewissenhaftigkeit und geringere Ängstlichkeit entwickelt haben. Dies ist im Rahmen der Übersichtsarbeit nicht abschließend geklärt – und auch deshalb sollten psychologische Test nicht im Rahmen der Talentidentifikation oder -selektion eingesetzt werden [15].

Für die Praxis: „Mastery Climate“ und Aufgabenorientierung

Dennoch können Trainerinnen und Trainer im Frauenfußball die Ergebnisse als Grundlage nehmen, ihr Training und ihren Umgang mit den Spielerinnen und dem Team in Richtung „Mastery Climate“ und Aufgabenorientierung anzupassen. Dies bedeutet, bspw., die individuelle Entwicklung der Spielerinnen hervorzuheben und  diese in Entscheidungsprozesse einzubeziehen, mit positiven Verstärkungen (Belohnungen) zu arbeiten, ein kooperatives Umfeld zu kreieren, indem die Spielerinnen Aufgaben gemeinsam lösen müssen und zeitnahes Feedback auf individueller und Teamebene bzgl. der Entwicklung zu geben [16]. Unter Umständen hilft dies Zuschauer*innen, Trainer*innen und Wissenschaftler*innen, bei Frauen differenziert die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu männlichen Sportlern (an)zuerkennen.

Die Inhalte basieren auf der Originalstudie „Psychological factors and performance in women’s football: a systematic review“, die 2021 im „Scandinavian Journal of Medicine & Science in Sports“ veröffentlicht worden ist.

Literatur

  1. Pettersen, S. D., Adolfsen, F. & Martinussen, M. (2022). Psychological factors and performance in women’s football: A systematic review. Scandinavian Journal of Medicine & Science in Sports, 32 Suppl 1, 161-175.
    Studie lesen
    1. Kirkendall, D. T. (2020). Evolution of soccer as a research topic. Progress in Cardiovascular Diseases, 63(6), 723-729.

    2. Thomas, G., West, M. A., Browning, M., Minto, G., Swart, M., Richardson, K., McGarrity, L., Jack, S., Grocott, M., & Levett, D. (2020). Why women are not small men: sex-related differences in perioperative cardiopulmonary exercise testing. Perioperative Medicine, 9, 18.

    3. Okholm Kryger, K., Wang, A., Mehta, R., Impellizzeri, F. M., Massey, A., & McCall, A. (2021). Research on women’s football: a scoping review. Science and Medicine in Football.

    4. Ivarsson, A., Kilhage-Persson, A., Martindale, R., Priestley, D., Huijgen, B., Ardern, C., & McCall, A. (2020). Psychological factors and future performance of football players: a systematic review with meta-analysis. Journal of Science and Medicine in Sport, 23(4), 415-420.

    5. Danielsen, L., Rodahl, S, Giske, R., & Høigaard, R. (2017). Mental toughness in elite and sub-elite female soccer players. International Journal of Applied Sports Sciences, 29(1), 77-85.

    6. Kristjánsdóttir, H., Jóhannsdóttir, K. R., Pic, M., & Saavedra, J. M. (2019). Psychological characteristics in women football players: skills, mental toughness, and anxiety. Scandinavian Journal of Psychology, 60, 609-615.

    7. Piedmont, R. L., Hill, D. C., & Blanco, S. (1999). Predicting athletic performance using the five-factormodel of personality. Personality and Individual Differences, 27(4), 769-777.

    8. Kalén, A., Bisagno, E., Musculus, L., Raab, M., Pérez-Ferreirós, A., Williams, A. M., Araújo, D., Lindwall, M., & Ivarsson, A. (2021). The role of domain-specific and domain-general cognitive functions and skills in sports performance: a meta-analysis. Psychological bulletin, 147(12), 1290-1308.

    9. Vestberg, T., Gustafson, R., Maurex, L., Ingvar, M., & Petrovic, P. (2012). Executive functions predict the success of top-soccer players. PLOS ONE, 7(4), e34731.

    10. Basevitch, I. (2013). Game reading skills in soccer (Dissertation, Florida State University). DigiNole Research Repository.

      Studie lesen
    11. Scharfen, H. E., & Memmert, D. (2019). Measurement of cognitive functions in experts and elite athletes: A meta‐analytic review. Applied Cognitive Psychology, 33(5), 843-860.

    12. Weiss, M. R., Amorose, A. J., & Wilko, A. M. (2009). Coaching behaviors, motivational climate, and psychosocial outcomes among female adolescent athletes. Pediatric Exercise Science, 21(4), 475-492.

    13. Iwasaki, S. (2015). The relationship of high school athletes’ goal orientations, and perceptions of the climate to their mindful engagement in sport (Dissertation, University of Kansas). KU ScholarWorks.

      Studie lesen
    14. Olmedilla, A., Ruiz-Barquín, R., Ponseti, F. J., Robles-Palazón, F. J., & García-Mas, A. (2019). Competitive psychological disposition and perception of performance in young female soccer players. Frontiers in Psychology, 10, 1168.

    15. Anshel, M. H., & Lidor, R. (2012). Talent detection programs in sport: the questionable use of psychological measures. Journal of Sport Behavior, 35(3), 239-266.

    16. Bortoli, L., Bertollo, M., Filho, E., di Fronso, S., & Robazza, C. (2017). Implementing the TARGET model in physical education: effects on perceived psychobiosocial and motivational states in girls. Frontiers in Psychology, 8, 1517.