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Erfolgsfaktoren im Kampf um die Nachwuchstalente

Die Talentsuche der Elite-Akademien im europäischen Vergleich

Talententwicklung
Zweikampfszene aus dem Finale der deutschen Meisterschaft zwischen Hertha BSC und Borussia Dortmund.
    • Die Zahl der selbst ausgebildeten Spieler in den Vereinen nimmt ab, während der Anteil eingekaufter Spieler steigt.
    • Akademien setzen in der Talententwicklung auf enge Verbindung von Forschung und Praxis.
    • Die Studienergebnisse deuten auf einen Paradigmenwechsel in der Talententwicklung der Akademien hin: Nachwuchs wird auch für den Verleih- und Transfermarkt ausgebildet.
Abstract

Wie gehen die Nachwuchsakademien der Elite-Fußballklubs bei der Talentidentifizierung vor? Welche Strategien verfolgen sie und was macht die Nachwuchsarbeit erfolgreich? Eine Studie hat dazu 11 Führungskräfte aus den Akademien von Profivereinen in ganz Europa befragt. Demnach hat die Talententwicklung nicht mehr nur die erste Mannschaft des Vereins im Blick, sondern zieht auch Topspieler für den Verleih- und Transfermarkt heran.

„War for Talents“ am Spielfeldrand

Florian Wirtz zählt zu den größten Talenten im europäischen Fußball. Bayer 04 Leverkusen vertraute nach einem Spielerverkauf auf die eigene Jugendabteilung und zog das Nachwuchstalent in die erste Mannschaft hoch. Das sparte dem Verein nicht nur eine Menge Geld, sondern brachte auch einen Topdebütanten hervor, der kurzzeitig zum jüngsten Torschützen der Bundesliga-Geschichte wurde. 

Angesichts steigender Ablösesummen auf dem Transfermarkt investieren immer mehr Profifußballvereine in die eigene Talentschmiede. Allerdings nimmt die Zahl der selbst ausgebildeten Nachwuchsspieler in den Klubs ab, während der Anteil an eingekauften Spielern steigt, wie jüngste Daten des Internationalen Zentrums für Sportstudien (CIES) zeigen [1]. Viele Jungtalente sehen ihren Verein nur noch als Sprungbrett zu lukrativeren Märkten. Für die Vereine wird es in diesem umkämpften Markt immer schwieriger, die Local-Player-Regelung zur Förderung des Nachwuchses in ihren Kadern einzuhalten. Erfolgsstrategien für die Suche, den Aufbau und die Vermarktung von jungen Talenten werden im Profifußball daher immer wichtiger.

Europäische Talentschmieden systemisch betrachtet 

Das Potenzial eines Nachwuchsspielers ist für Trainer und Scouts schwer abzuschätzen. Wie sich ein vielversprechendes Fußballtalent entwickelt, ist ein dynamischer Prozess, der von vielen verschiedenen Faktoren abhängt. Während vor allem physische, physiologische und soziale Prädiktoren für die Talentidentifikation und Talententwicklung im Fußball gut untersucht sind [2], ist über die Prozesse, Mechanismen und Strukturen der Nachwuchsarbeit in Fußballakademien, deren Einflüsse auf die Entwicklung eines Talents sowie deren Wechselwirkung mit dem Akademieumfeld wenig bekannt. „Profifußballvereine sind notorisch verschwiegen, was ihre Verfahren zur Talentsuche, Nachwuchsrekrutierung und Entwicklung junger Spieler angeht“, sagt Matthew J. Reeves von der School of Sport & Health Sciences der University of Central Lancashire in England. Seine Studie stützt sich auf einen ökosystemischen Ansatz [3, 4]. Die davon für den Sportbereich abgeleiteten Modelle [5, 6] lassen sich dazu nutzen, die Einflussfaktoren auf die menschliche Entwicklung sowie die Organisationskultur der Nachwuchsrekrutierung anhand einer Systemtheorie darzustellen. Reeves und sein Co-Autor haben dafür Personalverantwortliche und Sportdirektoren von 11 der produktivsten Fußballakademien von Profivereinen in ganz Europa per Fragebogen zu Bedingungen und Ausgestaltung ihrer Nachwuchsarbeit befragt. Die Studie bietet einen ganzheitlichen Blick auf das System der Talentidentifizierung und -entwicklung der Eliteklubs, der verschiedene Ebenen beleuchtet und Wechselwirkungen deutlich macht. Die Ergebnisse deuten auf einen Paradigmenwechsel in der Talententwicklung der Akademien hin: Die Nachwuchsarbeit zielt nicht mehr allein auf das Hochziehen von vielversprechenden Talenten für die erste Mannschaft des Vereins ab. Vielmehr gewinnt auch die Ausbildung für den Transfermarkt an Bedeutung.

Nachwuchsarbeit setzt auf enge Bindung zwischen Forschung und Praxis

Die 11 Top-Akademien in Europa haben breit gefächerte Kader, die von U8 über U9 bis hin zu U23 reichen. Die Personalstäbe sind fachlich differenziert aufgestellt mit Trainern und Assistenztrainern, Sportwissenschaftlern (einschließlich Leistungsanalysten und Athletiktrainer) sowie medizinischem Fachpersonal wie Physiotherapeuten, Podologen und Ärzten. Alle Akademien unterhalten enge Beziehungen zu Universitäten und nutzen sportwissenschaftliche Forschungsergebnisse, um ihre Verfahren und Praktiken zur Talentidentifizierung und -entwicklung zu verbessern. So sind etablierte Wachstums-, Reifungs- und anthropometrische Forschungsergebnisse in der Rekrutierungsarbeit fest verankert. In der praktischen Anwendung reicht das von der integrierten altersgerechten Trikotnummerierung (wobei die Nummer das biologische Entwicklungsalter repräsentiert) zur Sicherstellung eines altersgerechten Trainings, welches technische und taktische Fähigkeiten in einem positiven, unterstützenden und entwicklungsgerechten Umfeld vermittelt, bis zu Bio-Banding zur Zusammenstellung von Teams nach ihrem biologischen Alter. „Zusammengenommen deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass die Akademien vielleicht besser über die Nuancen der Talententwicklung unterrichtet sind, als bisher angenommen wurde“, sagt Studienautor Reeves.

Für die Rekrutierung von Nachwuchsspielern bilden die lokalen Fußballvereine den Nährboden für das Heranziehen potenzieller Talente, weil sie schon früh eine Bindung zum Verein, seiner Geschichte und dessen Kultur entwickeln. Ebenso wichtiger Partner im nicht sportlichen Bereich sind die Schulen. Sie sind eine Quelle von Insiderwissen über das Verhalten, die Motivation und die Lernfähigkeit einzelner Spieler. Viele Akademien arbeiten – wenn auch in unterschiedlichen Konstellationen – eng mit den Schulen zusammen, um diese Informationen nutzen zu können.

Das Ziel „erste Mannschaft“ verlagert sich

Wie nah die Nachwuchskader an der ersten Mannschaft dran sind, ist sehr unterschiedlich. Zwar sind die Jugendkader in allen befragten Akademien räumlich im selben Trainingsgelände untergebracht, sind aber organisatorisch von der ersten Mannschaft getrennt und nutzen andere Einrichtungen. So besteht wenig bis gar kein Kontakt zwischen Nachwuchs und Profis. Die Befragten geben an, dass die erste Mannschaft zwar symbolisch wichtig ist, um junge Spieler zu motivieren. Die Nähe zur ersten Mannschaft wird jedoch vor allem für die professionelle Entwicklungsphase innerhalb der Akademie (d. h., ab der U17) als relevant erachtet.

„Das Ziel, Toptalente für die erste Mannschaft zu entwickeln, scheint jedoch nicht mehr der alleinige Fokus von Vereinen und Akademien zu sein“, stellt Studienautor Reeves fest. Auch wenn dies nach wie vor eine Priorität ist, hat sich das traditionelle Verständnis der Nachwuchsarbeit verändert. Vielmehr haben die Akademien bei der Entwicklung ihrer Talente auch Karrieremöglichkeiten ihrer selbst ausgebildeten Spieler außerhalb des Vereins im Blick. „Die Akademien sind offenbar bestrebt, die besten jungen Talente für ihre Entwicklung zu finden, um später Geld zu sparen“, so Reeves. Im Fokus stehen dabei der Verleih der besten selbst ausgebildeten Spieler und der Transfer. Dieser Ansatz zahlt zweifach auf das positive Image des Vereins ein, heißt es in der Studie: Zum einen verbleiben jüngere Spieler auf diese Weise über einen längeren Zeitraum im Entwicklungssystem – auch wenn er später nicht unbedingt bei diesem Verein bliebe –, was den Verein als Talentschmiede bei Spielern und Eltern gut aussehen lasse. Zudem könne der Verein damit seine Kompetenz in Sachen Spielerentwicklung demonstrieren und unterstreichen.

Zum anderen profitiert der Verein auf dem Transfermarkt, mit mehrfachen Möglichkeiten. Der Stammverein kann die Registrierung des Spielers behalten, dessen weitere Entwicklung aber in die Verantwortung anderer legen. Er kann Kosten senken, indem der leihende Verein das Spielergehalt oder Teile davon zahlt. Die Ausleihe könnte aber auch in einen dauerhaften Transfer münden – mit einer entsprechenden Ablösesumme.

Akademien setzen auf Netzwerkarbeit – zu Hause und international

Auch deshalb wird für die Akademien der Aufbau guter Beziehungen zu anderen Vereinen immer wichtiger. Hatte die Netzwerkarbeit der Vereine in Regel die erste Mannschaft im Blick, gilt das nun auch für die Talententwicklung. „Wir haben Spieler, die ausgeliehen werden müssen, und andere Vereine auch. Also ist es hilfreich, wenn eine Beziehung zu ihnen besteht“, wird ein Befragter in der Studie zitiert. Diese Aussage deckt sich mit aktuellen Studien [7], die nahelegen, dass Vereine beim Transfer von Spielern umso erfolgreicher sind, je besser ihre Netzwerke und Beziehungen sind. 

Zunehmend sind die Akademien in der Talentsuche auch international unterwegs. Im Vorteil ist dabei, wer über ausreichend finanzielle Mittel verfügt, um vielversprechende Nachwuchsspieler aus anderen Ländern anzuwerben. Dazu gehört z. B. der Aufbau von Satelliten-Akademien in anderen Ländern. Dabei gilt, auf internationaler Suche genauso wie zu Hause, dass die jungen Talente zur Spielphilosophie des Vereins passen müssen. Die Akademien nutzen dafür unterschiedliche Wege. Dazu gehören zum Beispiel „Pre-Academies“. Sie richten sich an Jugendliche, die das Potenzial haben, im entsprechenden Alter in die eigentliche Akademie einzutreten, und bieten ihnen einen ersten Eindruck vom Trainingsprogramm. Sie dienen aber auch der Beziehungsarbeit mit den Eltern. Eine ebenso wichtige Rolle spielt die Zusammenarbeit der Akademien mit extern engagierten Talentscouts, die nicht mehr nur für die erste Mannschaft arbeiten, sondern auch die Nachwuchsarbeit des Vereins im Blick haben. Angesichts der oft großen räumlichen Distanz ist nicht nur eine vertrauensvolle Zusammenarbeit wichtig. Auch die Qualität der Informationen muss stimmen, damit die Klubs rechtzeitig die richtigen Entscheidungen treffen können. Dabei gilt es, unlautere Praktiken bei der Abwerbung von vielversprechenden Talenten zu vermeiden, die die Glaubwürdigkeit des Vereins untergraben könnten.

Fazit

Die Studie unternimmt den Versuch, die Erfolgsstrategien der europäischen Fußballakademien bei der Nachwuchsrekrutierung und Talentsuche näher zu beleuchten. Die ganzheitliche Betrachtung nimmt mehrere Umfelder in den Blick und zeigt eine Verschiebung der Nachwuchsausbildung vom Hochziehen von Eigengewächsen für die erste Mannschaft zum Ausbilden von Toptalenten, die für den Verein auf dem Leih- und Transfermarkt von Wert sind.

Die Inhalte basieren auf der Studie “A bioecological perspective on talent identification in junior-elite soccer: a pan-European perspective ”, die 2020 im “ Journal of Sports Sciences” veröffentlicht wurde.

Literatur

  1. Reeves, M. J., & Roberts, S. J. (2020). A bioecological perspective on talent identification in junior-elite soccer: a pan-European perspective. Journal of Sports Sciences, 38(11-12), 1259-1268.
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    1. Poli, R., Ravenel, L., & Besson, R. (2018). Ten years of demographic analysis of the football players’ labour market in Europe. Neuchâtel.

      Studie lesen
    2. Reeves, M. J., McRobert, A. P., Littlewood, M. A., & Roberts, S. J. (2018). A scoping review of the potential sociological predictors of talent in junior-elite football: 2000–2016. Soccer & Society, 19(8), 1085-1105.

    3. Bronfenbrenner, U. (2005). Making human beings human: Bioecological perspectives on human development. Thousand Oaks, CA: Sage Publications.

    4. Schein, E. H. (1990). Organizational culture. American Psychologist, 45(2), 109-119.

    5. Henriksen, K., Stambulova, N., & Roessler, K. K. (2010). Successful talent development in track and field: considering the role of environment. Scandinavian Journal of Medicine & Science in Sports, 20 Suppl 2, 122-132.

    6. Henriksen, K., Stambulova, N., & Roessler, K. K. (2010). Holistic approach to athletic talent development environments: a successful sailing milieu. Psychology of Sport and Exercise, 11(3), 212-222.

    7. Liu, X. F., Liu, Y. L., Lu, X. H., Wang, Q. X., & Wang, T. X. (2016). The anatomy of the global football player transfer network: club functionalities versus network properties. PloS ONE, 11(6), e0156504.