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Schon früh vielseitig üben

Wer als Kind in verschiedenen Sportarten trainiert und Wettkämpfe bestreitet, lernt als Nachwuchsfußballer*in leichter

Talententwicklung
SALFORD, ENGLAND - MARCH 06:  Children play tag rugby during half time at the Gallagher Premiership Rugby match between Sale Sharks and London Irish at  on March 06, 2020 in Salford, England. (Photo by Alex Livesey/Getty Images)
    • Nachwuchsfußballern fällt das Erlernen von perzeptuell-motorischen Fertigkeiten leichter, wenn sie als Kinder in mehreren Sportarten angeleitetes Training erfahren haben.
    • Wenn Kinder in den Trainings verschiedener Sportarten eine große Bandbreite an Lernsituationen und –methoden kennengelernt haben, profitieren sie vermutlich als Nachwuchsspieler von diesem „Erfahrungsnetz“, weil sie effizienter lernen und schneller Fortschritte erzielen.
Abstract

Nicht jeder Elitefußballspieler von heute hat schon als Kleinkind mit dem Fußballtraining angefangen. Sportliche Aktivitäten im Kindesalter können aber durchaus den Weg zum Spitzenspieler ebnen. Sportwissenschaftler aus Deutschland haben untersucht, ob es einen Zusammenhang zwischen der Art kindlicher Sportaktivität und der späteren Leistungsentwicklung von fußballspezifischen Fertigkeiten gibt. Der Umfang von freiem Spielen in der Freizeit im Fußball oder in anderen Sportarten („deliberate play“) sowie des reinen Fußballtrainings im Verein („deliberate practice“) in der Kindheit korrelierten jeweils nicht signifikant mit fußballspezifischen Leistungsfortschritten der untersuchten Nachwuchsspieler (10-13 Jahre) im Laufe einer einjährigen Saison. Jedoch waren Trainingserfahrungen von Kindern in mehreren Sportarten unter Anleitung eines Trainers deutlich mit Lernfortschritten der Nachwuchsspieler im Fußball verbunden.  

Auf verschiedenen Wegen zum erfolgreichen Elitespieler

Die Entwicklung zum Elitespieler1 verläuft höchst unterschiedlich und ist durch viele Faktoren beeinflusst. Während einige Spitzenspieler von heute in ihrer Kindheit verschiedenen Sportarten nachgegangen sind, haben andere ihre Dribbelkünste vor allem auf dem Bolzplatz erworben. Wieder andere trainierten schon von jüngsten Kindesbeinen an im Fußballverein. Auch wenn es den einen Weg zum Elitefußballer natürlich nicht gibt, stellt sich dennoch die Frage, welche sportlichen Aktivitäten während der Kindheit die besten Voraussetzungen für eine nachfolgende Entwicklung zum Elitespieler bieten.

Spezialisierung oder Diversifikation?

Ist beispielsweise eine frühzeitige Spezialisierung auf die Zielsportart nötig und förderlich oder sollte die Förderung eher breit und sportartübergreifend sein? Diese Frage wird in der sportwissenschaftlichen Literatur kontrovers diskutiert. Eines der bekanntesten Konzepte hinsichtlich der Talententwicklung im Sport ist das der spezifischen Trainingsformen („deliberate practice“) [1]. Damit ist ein strukturierter Trainingsprozess gemeint, bei dem üblicherweise ein Trainer zielgerichtet sportartspezifische Übungen anleitet. Dem deliberate practice liegt – vereinfacht gesagt – die Annahme zugrunde, dass Sportler, die spezifische Trainingsformen kontinuierlich wiederholen und stetig Trainerkorrektur erfahren letztlich ein hohes Niveau in ihrer Sportart erreichen. Dieses Konzept impliziert eine frühzeitige Spezialisierung: Nur wer schon als Kind spezielle Trainingsformen in ausreichendem Maße durchführt, wird es zu höchsten Leistungen bringen.  

Ein Gegenentwurf zum deliberate practice ist das Konzept des „deliberate play“ [2]. Darunter werden verschiedenste freie Spielformen (z. B. Straßenhockey oder
-basketball, Fußball im Hinterhof / auf der Parkwiese) verstanden, bei denen Kinder und Jugendliche ohne Anleitung durch Erwachsene frei spielen. Die Freude am Spiel mit Gleichaltrigen steht bei diesem Modell im Vordergrund. Die Verfechter dieses Konzepts befürworten für das Kindesalter hohe Anteile des deliberate play, geringere Anteile der deliberate practice und eine möglichst breite, sportartübergreifende Aktivität im Kindesalter. Über die Diversifikation und das Erproben („sampling“) könnten die in anderen Sportarten erworbenen Fertigkeiten in die Zielsportart transferiert und die Entwicklung zum Elitesportler nachhaltiger gefördert werden, so die These.

Welche Faktoren sind ausschlaggebend?

Die traditionelle Sportwissenschaft betrachtete Spezialisierung und Diversifikation als zwei voneinander getrennte Partizipationsmuster, mit denen Spitzenleistungen im Erwachsenenalter erlangt werden können [3]. Das Developmental Model of Sport Participation (DMSP) versucht schon Spezialisierung und allgemeine sportartenübergreifende Förderung zu integrieren [2, 4]. Moderne Ansätze sehen Spezialisierung und Diversifikation, angeleitetes Training und freies Spiel als Teile eines mehrdimensionalen Systems. So haben neuere Studien untersucht, ob sich mehr oder weniger erfolgreiche Fußballspieler durch diverse Faktoren (Einstiegsalter in den Sport bzw. in den Fußball / Gesamtstunden Sport- bzw. Fußballtraining / Gesamtstunden freies Spiel etc.) voneinander unterscheiden.

Angeleitete Trainingsformen könnten den Unterschied machen

Auch wenn der strukturierte Überblick über die Vielzahl dieser Studien kein einheitliches Bild ergibt, zeigen sich doch einige Zusammenhänge: Zum Beispiel korrelierten frühe Erfolge im Jugendalter vor allem mit dem Umfang früher sportartspezifischer Trainingsformen unter Anleitung von Trainern [5-7]. Bei den Studien, die die jeweiligen Gesamtstunden verschiedener sportlicher Aktivitäten zwischen den höchsten Leistungsebenen (erwachsene Weltklasse versus nationale Ebene) verglichen, sehen die Ergebnisse allerdings anders aus: Die Weltklasse-Sportler unterschieden sich von ihren Kollegen auf nationaler Ebene nicht durch eine höhere Gesamtstundenanzahl an sportspezifischen Trainingsformen. Sie unterschieden sich aber darin, dass die Weltklasse-Sportler in ihrem Kindes- und Jugendalter im Gegensatz zu ihren Kollegen deutlich mehr Stunden mit angeleitetem Training in anderen Sportarten als der Zielsportart absolviert hatten [5-7, 9]. Die von einem Trainer angeleiteten Trainingsformen in anderen Sportarten scheinen hier das spätere Erlernen von fußballspezifischen Fertigkeiten erleichtert zu haben.

Trainer bewerten die Fortschritte in einer Fußballsaison

Auf diese Erkenntnisse aufbauend, hat ein Forscherteam um Prof. Arne Güllich von der Universität Kaiserslautern in einer aktuellen Studie untersucht, ob eine positive Leistungsentwicklung bei Nachwuchsfußballspielern mit früher erlangten Lern-Erfahrungen aus folgenden Bereichen zusammenhängt:

  • deliberate play im Fußball,

  • deliberate practice im Fußball,

  • deliberate play in anderen Sportarten,

  • Organisiertes, vom Trainer geleitetes Training in anderen Sportarten.

An der Studie nahmen 100 Nachwuchsspieler (10 bis 13 Jahre) aus mehreren südwestdeutschen Fußballvereinen sowie deren jeweilige Trainer teil. Die Spieler gaben an, in welchem Maße und welcher Art sie in früheren Jahren sportlich aktiv gewesen waren: In welchem Alter sie mit dem Fußballtraining und -wettkampfspielen sowie mit Training und Wettkämpfen in anderen Sportarten angefangen hatten, inwieweit sie deliberate play im Fußball und in anderen Sportarten betrieben hatten sowie für jede dieser Sportaktivitäten, wie viele Stunden insgesamt zusammengekommen waren. Die aktuellen Trainer wurden gebeten, jeden ihrer Spieler bezüglich deren Lernfortschritte in technisch-taktischen Fertigkeiten (Ballkontrolle, Zweikampfverhalten, Handlungsschnelligkeit, Entscheidungsfindung unter Druck) über eine Saison hinweg zu bewerten.

Später leichter lernen? Sportarten-Diversität und Trainerbegleitung können helfen

Nach statistischer Auswertung aller Daten zeigte sich: Die Gesamtmenge (Stundenanzahl) aller früheren und aktuellen Sportaktivitäten hing nicht mit Lernfortschritten der untersuchten Nachwuchsfußballer zusammen.

Auch der Umfang an deliberate practice im Fußball während der Kindheit oder deliberate play im Fußball und anderen Sportarten korrelierten nicht signifikant mit dem Lernfortschritt der Nachwuchsfußballer. Im Gegensatz dazu zeigte sich aber ein deutlicher Zusammenhang zwischen früherem Training mit Trainern in anderen Sportarten und späteren fußballspezifischen Lernfortschritten. Dabei spielte es keine Rolle, ob die anderen Sportarten dem Fußball ähnelten oder nicht.

Die Sportwissenschaftler weisen darauf hin, dass ihre Studienergebnisse keinesfalls die Relevanz des fußballspezifischen Trainings für die Leistungsentwicklung im Fußball mindern würden. Außerdem besagten die Ergebnisse keinen direkten Effekt des Trainings in anderen Sportarten auf spätere fußballerische Fertigkeiten. Vielmehr legen die Ergebnisse einen indirekten, moderierenden Effekt nahe, indem frühere Trainingserfahrungen in anderen Sportarten die Lernpotentiale des Spielers für das spätere Lernen im fußballspezifischen Training verbessern.

Früh lernen, wie man lernt

Wie lässt sich aber dieser Effekt erklären? Das Team um Arne Güllich sieht durch die Ergebnisse den Ansatz „Lerntransfer als Vorbereitung auf zukünftiges Lernen“ [6, 8] bekräftigt. Danach fördern frühe Trainingserfahrungen in unterschiedlichen Sportaktivitäten das spätere Erlernen sportartspezifischer Fertigkeiten auf verschiedenen Wegen:

  • Das Erkunden verschiedener Variationen einer Fertigkeit im allgemeinen Sporttraining (z. B. verschiedene Arten des Laufens, Springens, der Ballkontrolle) könnte dabei helfen, ein breites und engmaschiges „Netzwerk“ an perzeptuell-motorischen Fertigkeiten anzulegen, das später passende funktionelle Lösungen bereitstellt.
  • Die größere Variation der Lernerfahrungen gibt dem Spieler einen größeren Einblick in verschiedene Lernmethoden. Dadurch könnte der Sportler besser die „Gesetzmäßigkeiten“ verstehen, welche Lernformen für ihn individuell mehr oder weniger effektiv sind.
  • Wenn ein Sportler gegensätzliche Lernaufgaben, -situationen und -methoden kennenlernt, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass er später diejenigen Informationen erkennt und verwertet, die für seinen Lernprozess von Relevanz sind.
  • Unterschiedliche Lernerfahrungen könnten Sportler eher dazu befähigen, je nach Lernaufgabe perzeptuell-motorische Handlungen an verschiedene Informationsarten / Situationen anzupassen und adäquat zu reagieren.

Die Inhalte basieren auf der Studie "Coach-assessed skill learning progress of youth soccer players correlates with earlier childhood practice in other sports", die 2020 im „International Journal of Sports Science & Coaching" veröffentlicht wurde.

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1 Anmerkung zum Sprachgebrauch: Im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit in der Regel nur noch die männliche Form verwendet. Es sind damit alle Personen unabhängig von ihrem Geschlecht gemeint.

Literatur

  1. Güllich, A., Cronauer, R., Diehl, J., Gard, L., & Miller, C. (2020). Coach-assessed skill learning progress of youth soccer players correlates with earlier childhood practice in other sports. Sports Science & Coaching, 15(3), 285-296.
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    1. Ericsson KA, Krampe RT and Tesch-Römer C. (1993) The role of deliberate practice in the acquisition of expert performance. Psychol Rev; 100: 363–406.

    2. Côté J, Baker J and Abernethy B. (2007) Practice and play in the development of sport expertise. In: Eklund R and Tenenbaum G (eds) Handbook of sport psychology. Hoboken, US: Wiley, pp.184–202.

    3. Baker J, Cobley S and Fraser-Thomas J. (2009) What do we know about early specialization? Not much! High Abil Stud; 20: 77–89.

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    4. Côté J (1999) The influence of the family in the development of talent in sport. Sport Psychol; 13: 395–417.

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    5. Ford, P. R., Ward, P., Hodges, N. J., & Williams, A. M. (2009). The role of deliberate practice and play in career progression in sport: the early engagement hypothesis. High ability studies, 20(1), 65-75.

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    6. Haugaasen, M., Toering, T., & Jordet, G. (2014). From childhood to senior professional football: A multi-level approach to elite youth football players’ engagement in football-specific activities. Psychology of sport and exercise, 15(4), 336-344.

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    7. Güllich A and Emrich E. (2014) Considering long-term sustainability in the development of world class success. Eur J Sport Sci; 14: 383–397.

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    8. Bransford JD and Schwartz DL (1999) Rethinking transfer: a simple proposal with multiple implications. Rev Res Educ; 24: 64–100.

    9. Güllich, A. (2019). “Macro-structure” of developmental participation histories and “micro-structure” of practice of German female world-class and national-class football players. Journal of sports sciences, 37(12), 1347-1355.

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