Wissen
Kinderfußball international: Freies Spiel voraus!
Welche nationalen Fußballverbände setzen im Kinderfußball auf Spielformen, die das Spielen erleichtern?
- Kindgemäße Spielformen zeichnen sich durch ein Spiel unter weitgehend unstrukturierten Situationen aus, bei dem sich der Trainer zurücknimmt und der Kreativität der Kinder freien Lauf lässt.
- Freie Spielformen erhöhen laut Studien über den Spaß am Spiel und eigene kleine Erfolge das Selbstbewusstsein und die Motivation der Kinder. Die Zahl der Drop-Outs nimmt in der Folge ab.
- Die meisten der untersuchten Fußballverbände empfehlen überwiegend Spielformen mit einfachen Regeln, die das Spielen erleichtern.
- Während einige Verbände (z. B. Italien und Australien) mit dem freien Spiel vor allem die Freude am Sport fördern wollen, ist bei anderen Verbänden (z. B. USA und Belgien) die Entwicklung von Fertigkeiten und Talenten schon integriert.
Abstract
Um den Fußball und die Vereine an der Basis zu stärken, hat der Deutsche Fußball-Bund für den Kinderfußball neue Spielformate angeregt. Die sogenannte „Kleinfeldspielreform“ soll jedem Kind größere Spielanteile und mehr Ballaktionen geben. Auch andere nationale Fußballverbände legen großen Wert auf erleichternde Spielformen, damit die Kinder Fußball in erster Linie mit Freude verbinden und dem Sport erhalten bleiben. Einer US-amerikanischen Untersuchung zufolge ist in den meisten Richtlinien der großen nationalen Verbände die Philosophie des entdeckenden spielerischen Lernens im Kinderfußball (12 Jahre und jünger) verankert. Es bestehen aber durchaus grundsätzliche Unterschiede zwischen den Verbänden, welche kurz- oder langfristigen Ziele mit den freien Spielformen verfolgt werden.
„Sie wollen doch nur spielen“
Eine Wiese, ein Fußball, einige Kinder. Daraus entwickelt sich schnell ein Spiel auf ein oder mehrere Tore aus Rucksäcken, Stöcken oder Steinen – oft mit ganz eigenen Regeln. Auf diese Weise erleben Kinder das gemeinsame Bewegungsspiel als Beschäftigung, die ihnen Spaß macht, bei der sie ihre Fähigkeiten austesten und Selbstbewusstsein gewinnen können. An dieses „natürliche“ Spiel knüpfen mittlerweile mehr und mehr Fußballvereine an, indem sie die Kinder vor allem spielen lassen.
Das Spiel selbst ist der beste Lehrmeister
Beim freien Spiel („free play“, „game play“) finden Spielformen statt, die – im Gegensatz zu spezifischen Trainingsformen („deliberate practice“) – nur wenig strukturiert sind. Der Trainer nimmt sich weitestgehend zurück, gibt begleitend ein paar Tipps und hilft bei Bedarf. Die Freiheit, den Sport spielerisch auf eine ganz eigene Art und Weise zu erleben und mit den persönlichen Fähigkeiten zu experimentieren, verschafft Kindern Freude und motiviert sie nachweislich [1]. Kinder zeigen in altersgerechten Spielformen eine hohe Lern- und Leistungsbereitschaft [2] und verfolgen den Sport weiter. Das Spielen im Kindersport verringert Studien zufolge die Zahl derer, die in den ersten Monaten das Training verlassen oder den Sport ganz aufgeben [3, 4].
Mehr Struktur statt Laisser-faire?
Auf der anderen Seite betonen Experten, dass junge Menschen durch ein strukturiertes Trainingsprogramm schon früh technische Fertigkeiten und sportartspezifische Kompetenzen entwickeln können [5]. Ein solches Konzept lässt im Vergleich zum freien Spiel weniger Raum für spielerisch-kreative Prozesse, ist durch eine höhere Wiederholungsrate in den ausgewählten Trainingsformen gekennzeichnet und rückt insgesamt den Trainer stärker in den Mittelpunkt [5, 6]. Einer weit verbreiteten Annahme zufolge führe eine frühe Sport-Spezialisierung zusammen mit einem strengen Regiment an Trainingseinheiten später häufig zu erfolgreichen Athleten. Diese Annahme findet in der Forschung allerdings kaum Belege. Im Gegenteil: Die „Erfolge“, die bei Einzelnen durch frühe Spezialisierung erreicht werden, könnten bei der Mehrzahl der Kinder zulasten ihrer körperlichen und mentalen Gesundheit gehen, wie die Amerikanische Orthopädische Gesellschaft für Sportmedizin (AOSSM) in einer Stellungnahme erklärt [7].
Was wollen die Fußballverbände?
Weltweit wird in vielen nationalen Fußballverbänden die Frage diskutiert, wie der Kinderfußball in ihrem Land ausgerichtet sein soll. Stehen die Attraktivität des Sports und die Freude am Spiel im Vordergrund, um die Basis langfristig zu stärken, oder müssen Förderprogramme schon bei den ganz Kleinen ansetzen, um den zukünftigen nationalen Erfolg zu sichern? Lassen sich beide Ziele möglicherweise durch sinnvolle Maßgaben verbinden?
Das US-amerikanische Forscherteam um Marty Baker hat überprüft, ob und in welcher Weise die Richtlinien der nationalen Fußballverbände das freie Spiel für den Kinderfußball (12 Jahre und jünger) empfehlen oder ob anderweitige Vorgaben herauszulesen sind. Die Wissenschaftler konnten für ihre Studie nur die Fußballverbände aufnehmen, die ihre Richtlinien öffentlich, unentgeltlich und in englischer Sprache zugänglich gemacht haben. Das sind im Einzelnen: Australien, Belgien, Deutschland, England, Irland, Italien, Kanada, Nordirland, Schottland, die USA und Wales.
Philosophie des Kinderfußballs
Marty Baker und Kollegen haben in den verschiedenen Leitlinien der Verbände einige Gemeinsamkeiten hinsichtlich ihrer Philosophie des Kinderfußballtrainings entdeckt. Sie unterscheiden drei Hauptkategorien:
- Freies Spiel mit dem Hauptziel, langanhaltende Freude am Sport zu erfahren
- Freies Spiel für den Transfer von Fertigkeiten
Strukturierte, spezifische Trainingsformen („deliberate practice“)
Freies Spiel: Leidenschaft und Treue zum Sport
Die Richtlinien einiger Länder wie Australien, Italien und Kanada betonen, dass Kinderfußball in erster Linie Spaß bereiten soll. Über die Freude am Sport entwickle sich – unabhängig vom Talent – eine langfristige, manchmal lebenslange Beziehung zum Fußball. Das Spiel an sich mit seinen vielen Variationsmöglichkeiten wird als die geeignete Trainingsform angesehen, um dieses Ziel zu erreichen. Die Leitlinien besagter Länder beinhalten auch Passagen zur Talententwicklung. Allerdings erscheint die Ausbildung von Fertigkeiten und Talent in diesen Schriften eher als etwas, das ohnehin und natürlicherweise aus der Freude und Leidenschaft für das Spiel heraus erwächst.
Freies Spiel: Für den Transfer von Fertigkeiten
Auch in dieser Kategorie liegt das Hauptaugenmerk auf der Philosophie, dass Kindersport über freies Spiel Freude am Fußball vermittelt. Im Unterschied zu den Leitlinien des australischen, italienischen und kanadischen Verbands ist in diesen Leitlinien aber ein weiterführendes Ziel des Trainings schon enthalten, nämlich Fertigkeiten bei talentierten Spielern zu entwickeln, damit diese sich zu einem späteren Zeitpunkt für die Elite-Ligen und Nationalmannschaften qualifizieren. Der US-amerikanische, belgische und schottische Verband verfolgt beispielsweise eine solche Philosophie.
Exkurs: Deutschland – Freies Spiel und Kleinfeldspielreform
In Deutschland erprobt der Deutsche Fußball-Bund derzeit ein neues Konzept für den Kinderfußball in den Altersklassen U 6 bis U 11. Neue Spielformen mit kleineren Teams auf kleineren Spielfeldern sollen jedem Kind mehr Spielanteile bringen, die an Spielenachmittagen organisiert werden können. Wenn in der G-Jugend die Kinder im Zwei-gegen-Zwei oder Drei-gegen-Drei auf vier Minitore ohne Torwart spielen (F-Jugend: Drei-gegen-Drei; E-Jugend: Fünf-gegen-Fünf oder Sieben-gegen-Sieben auf Kleinfeldtore mit Torwart) erhalten auch leistungsschwächere Kinder mehr Ballaktionen, Torabschlüsse und somit größeres Selbstvertrauen. Aktuell beteiligen sich zehn Landesverbände an dem Pilotprojekt, das ab der Saison 2019/20 in eine erweiterte Phase geht. Impulsgeber für die Kleinfeldspielreform ist das von Horst Wein entwickelte FUNINO, deren Potenzial Matthias Lochmann (Wettkampfsystem 4.0, BDFL 2018) für den Spielbetrieb erweckt hat.
Sonderfall England: Fun steht nicht im Fokus
Unter den von den Forschern analysierten Richtlinien besitzen die Vorgaben des englischen Fußballverbands ein gewisses Alleinstellungsmerkmal. Denn in ihnen finden Begriffe wie „Spaß“ und „Freude“ kaum Erwähnung. Stattdessen liegt der Fokus deutlich auf dem Leistungsgedanken. Laut Richtlinien sollte im Kinderfußball frühzeitig das Fundament an spezifischen Fertigkeiten gelegt werden, um Talente für das Nationalteam von morgen zu entwickeln. In diesem Konzept spielt der Trainer eine herausragende Rolle. Er strukturiert die spezifischen Trainingsformen im Kinderfußball und passt die Übungseinheiten an, damit sich die technischen und taktischen Fertigkeiten der jungen Spieler kontinuierlich verbessern können.
Die Inhalte basieren auf der Originalstudie "Sport-Specific Free Play Youth Football/Soccer Program Recommendations Around the World”, die 2019 im "International Sport Coaching Journal" veröffentlicht wurde.
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Literatur
- Baker, M. K., Graham, J. A., Smith, A., & Smith, Z. T. (2019). Sport-Specific Free Play Youth Football/Soccer Program Recommendations Around the World. International Sport Coaching Journal, (00), 1-10.Studie lesen
Ling F, Farrow A, Farrow D, et al. Children’s perspectives on the Playing for Life philosophy in an afterschool sports program. Int J Sport Science & Coaching 2016;11:780–788.
Studie lesenFry J, Tan C, McNeil M. Children’s perspectives on conceptual games teaching: A value adding experience. Phys Education Sport Pedagogy 2010;15:139–158.
Studie lesenCôté J, Strachan L, Fraser-Thomas JL. Participation, personal development and performance through youth sport. In N.L. Holt (Ed.), Positive youth development through sport:34–45.
Studie lesenStrachan L, Côté J, Deakin J. A new view: Exploring positive youth development in elite sport contexts. Qual Res in Sport, Exercise, and Health 2011;3:9–32.
Studie lesenForsman H, Blomqvist M, Davids K, et al. The role of sport-specific play and practice during childhood in the development of adolescent Finnish team sport athletes. Int J of Sport Science and Coaching 2016;11:69–77.
Studie lesenHubball H, Butler J. Learning-centred approaches to games education: Problem-based learning (PBL) in a Canadian youth soccer program. New Zealand Physical Educator 2006;39:20.
LaPrade RF, Agel J, Baker J, et al. AOSSM early sport specialization consensus statement. Orthopaedic Journal of Sports Medicine 2016;4.
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