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Talentprognose: Welche Methode führt zur höchsten Vorhersagewahrscheinlichkeit einer Fußballkarriere?

Kombination aus der Beurteilung des Trainers und objektiven Leistungstests erbrachte die beste Vorhersagekraft

Talententwicklung
Manuel Mbom (Deutschland) dribbelt dribbelt während des Spiel zwischen der U 19 Ungarns und der U 19 Deutschlands mit dem Ball.
    • Direkter Vergleich zwischen verschiedenen Talentidentifizierungsmethoden (Trainerurteil vs. sportmotorische Tests vs. multidimensionale Daten).
    • Ein ganzheitlicher, multidimensionaler Ansatz erreichte eine höhere Vorhersagekraft einer Fußballkarriere als Prognosen, die ausschließlich auf sportmotorischen Tests beruhen.
    • Erweiterte Modelle aus der Kombination von subjektiver Trainereinschätzung und objektiven Tests sind einer Einzelmethode überlegen. 
Abstract

Eine Vorhersage, ob ein Jugendfußballer mal den Durchbruch in den Profifußball schafft oder nicht, ist für Vereine und Verbände von großem Interesse. Als Entscheidungshilfe für Fördermaßnahmen stehen verschiedene Methoden, wie z. B. das Trainerurteil, sportmotorische Tests, psychosoziologische Evaluierungen und die Beurteilung der biologischen Reife zur Verfügung. Welche Methode liefert aber tatsächlich die genaueste Abschätzung über den Verlauf einer Fußballkarriere? Die analysierte Studie vergleicht die einzelnen Verfahren bezüglich ihrer Vorhersagewahrscheinlichkeit. Ein ganzheitlicher Ansatz, also eine Kombination aus subjektiver Beurteilung des Trainers und objektiv erhobenen Leistungsdaten zeigte die stärkste Vorhersagekraft. Bei einer solchen Kombination scheinen sich die jeweiligen Schwächen der einzelnen Verfahren gegenseitig zu kompensieren.

Die Lücke zwischen wissenschaftlicher Empfehlung und praktischer Umsetzung schließen

Was der Trainer sagt, hat Gewicht. Das gilt durchaus auch für die Auswahl von Nachwuchstalenten. In vielen Fällen bestimmt das Urteil des Trainers darüber, ob ein Spieler als Talent ausgewählt wird oder nicht. Während sich manche Vereine und Verbände allein auf die subjektive Einschätzung des Trainers bei der Talentidentifizierung verlassen, ziehen andere Talentauswahlprogramme sportmotorische Tests hinzu [1]. Gleichzeitig werden Stimmen aus der Wissenschaft lauter, die eine Talentauswahl auf Basis multidimensional erhobener Daten, also einer Kombination aus leistungsdiagnostischen Tests, psychosoziologischer Evaluierung und biologischer Reife befürworten. Damit jener multidimensionaler Ansatz in der Praxis auch berücksichtigt wird, benötigt es verlässliche Nachweise für die Überlegenheit gegenüber traditionell angewendeten Auswahlverfahren.

Die Vor- und Nachteile verschiedener Talentidentifizierungsmethoden

Bislang gab es jedoch noch keine direkten Vergleiche zwischen der Vorhersagekraft der verschiedenen Talentauswahlverfahren. Im Allgemeinen bringt man mit den verschiedenen Methoden Vor- und Nachteile in Verbindung: Trainerurteil
+    „Ganzheitliche“ und persönliche Spieler-Einschätzung [2, 3].
-    subjektive Entscheidung auf Basis von Erfahrung/Gefühl, Einfluss des relativen Alterseffekts [4, 5].

Sportmotorische Tests
+    Messung motorischer und technischer Fertigkeiten ermöglicht eine objektive Bestimmung des derzeitigen Leistungsstands [6, 7, 8].
-    Aussagekraft der Testergebnisse zur langfristige Talentprognose wird durch individuell verlaufende biologische Reifungsprozesse beeinflusst [9, 10, 11].

Multidimensionaler Ansatz
+    Beachtung weiterer prognoserelevanter Dimensionen, wie z. B. Persönlichkeit, familiäre Unterstützung, Trainingshistorie [12, 13].
-    Mögliche Störeinflüsse auf erhobene Variablen (z. B. unbekannter Entwicklungsverlauf) [8, 14].

Talentprognose: Welche Nachwuchsspieler sind in fünf Jahren Profis?

Welcher Ansatz ist nun am effektivsten, um den zukünftigen Erfolg eines Nachwuchsspielers möglichst präzise vorhersagen zu können? Das Forscherteam um Roland Sieghartsleitner hat die verschiedenen Methoden der Talentidentifizierung einem direkten Vergleich unterzogen (s. ABB. 01). Für ihre Analyse konnten die Forscher auf Daten einer Längsschnittstudie des Schweizerischen Fußballverbands mit 117 Spielern (Jahrgang 1999) zurückgreifen. Als U 14-Spieler wurden die Nachwuchsfußballer getestet und fünf Jahre später wurde dann geschaut, wie weit die Spieler es „gebracht“ hatten und welche Methode die genauste Vorhersage erzielte. Von den 117 Spielern schafften 20 den Sprung in die 1.-3. Liga der Schweiz oder in die U 19 Nationalmannschaft. Die übrigen 97 Spieler spielten ab der 4. Liga abwärts und wurden somit als Nicht-Profifußballer klassifiziert.

Ein Vergleich verschiedener Methoden und berechneter Modelle zur Talentidentifizierung.
Ein Vergleich verschiedener Methoden und berechneter Modelle zur Talentidentifizierung.
Talentprognose mittels drei Methoden und zwei Kombimodellen

Per statistischer Datenanalyse verglichen die Forscher die drei Talentidentifizierungsmethoden sowie die zwei kombinierten Modelle hinsichtlich der jeweiligen Vorhersagekraft (Profi oder Nicht-Profi).
Insgesamt zeigten alle fünf Ansätze eine relativ hohe Vorhersagekraft (73-88 % korrekte Klassifizierung). Das bedeutet, dass je nach Methode bzw. Modell 14-19 Spieler der 20 Spieler mit Profistatus richtig klassifiziert wurden. Bei den 97 Spielern, die nach fünf Jahren keinen Profistatus erreicht hatten, wurden 64-85 Spieler richtig zugeordnet (s. TAB. 01).
Dass alle untersuchten Talentidentifizierungsverfahren relativ gut abgeschnitten haben, ist den Forschern zufolge ein Indiz dafür, dass die in der Praxis häufig zum Einsatz kommenden Verfahren ihre Berechtigung haben.

Die einzelnen Methoden und Modelle zur Talentidentifizerung und ihre jeweilige Vorhersagekraft, ob ein Spieler später einen Profistatus erreicht oder nicht.
Die einzelnen Methoden und Modelle zur Talentidentifizerung und ihre jeweilige Vorhersagekraft, ob ein Spieler später einen Profistatus erreicht oder nicht.
Welche Methode bringt die genauste Vorhersage?

In einer zweiten Analyse prüften die Forscher jeweils im direkten Vergleich, ob eine Methode der anderen in seiner Vorhersagekraft signifikant – d. h. statistisch eindeutig – überlegen ist. Dabei zeigte sich, dass das Trainerurteil sich nicht deutlich von den sportmotorischen Tests oder dem multidimensionalen Ansatz unterscheidet. Aber die sportmotorischen Tests für sich genommen profitieren durch den erweiterten multidimensionalen Ansatz. Wendet man also ein Verfahren an, welche ausschließlich auf Messdaten basiert, so ist ein multidimensionaler Ansatz bevorteilt. 

Das eine tun, das andere nicht lassen: Effizienz der kombinierten Modelle

Nicht immer gilt die Formel: „Mehr Daten gleich bessere Vorhersagekraft“. In der Studie wurden auch die Kombinationsmodelle (A, B) mit den drei verschiedenen Methoden verglichen. Das ganzheitliche Kombinationsmodell (B) ist hinsichtlich der Prognosegenauigkeit allen Einzelmethoden bevorteilt, im Vergleich zum Kombinationsmodell (A) bietet es aber keinen Mehrwert. Das Kombinationsmodell (A) ist der alleinigen Methode Trainerurteil nicht überlegen, wohl aber den sportmotorischen Tests.

Anwendungsempfehlung

Aus den direkten Vergleichen leiten die Forscher die generelle Empfehlung ab, für die Talentidentifizierung eine Kombination aus Trainerurteil und erhobenen Messdaten (vorzugsweise multidimensional) zu verwenden. Der Erfolg einer solchen ganzheitlichen Beurteilung, die sowohl objektive Messdaten als auch subjektive Einschätzungen integriert, könne darin begründet liegen, dass die jeweiligen Schwächen des einen Teils durch die Stärken des anderen Teils gepuffert werden.

Die Inhalte basieren auf der Studie "Science or Coaches’ Eye? – Both! Beneficial Collaboration of Multidimensional Measurements and Coach Assessments for Efficient Talent Selection in Elite Youth Football", die 2019 im "Journal of Sports Science and Medicine" veröffentlicht wurde.

Literatur

  1. Sieghartsleitner, R., Zuber, C., Zibung, M., & Conzelmann, A. (2019). Science or coaches’ eye?–both! Beneficial collaboration of multidimensional measurements and coach assessments for efficient talent selection in Elite Youth Football. Journal of sports science & medicine, 18(1), 32.
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