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Wie effektiv ist ein Pass?

Datenanalysten zeigen, wie man effektives Passspiel messen kann

Bewegungsanalyse & Biomechanik
Technologie & Equipment
Zweikampf zwischen Leon Goretzka (Deutschland) und Sander Puri (Estland)
    • Datenanalysten nutzen Spieler-Positionsdaten, um den Effekt eines Passes auf den Gegner zu messen.
    • Sowohl der I-Mov-Index als auch der D-Def-Index nehmen situationsbedingte Variablen sowie die Interaktion mit dem Gegner in den Blick und beschreibt die Qualität von Pässen aus taktischer Sicht.

    • Der Studie nach führt ein „guter Pass“ zu einem größeren Laufweg der Verteidigungsspieler (I-Mov-Index) und bringt den gegnerischen Deckungsverbund mehr aus der Ordnung (D-Def-Index).

    • Die Passlänge und die Passgeschwindigkeit sind die wichtigsten Kriterien, um die gegnerische Verteidigung aus der Ordnung zu bringen.
Abstract

Pro Wettkampf spielt eine Fußballmannschaft ca. 500 Pässe. Die Bewertung des Passspiels gründet in der Praxis meist auf Beobachtungsanalysen und auf statistische Auswertungen, die zeigen, wie viele der gespielten Pässe den Mitspieler tatsächlich erreichen. Wann aber ist ein Pass effektiv und was unterscheidet aus taktischer Sicht einen „guten“ von einem „schlechten“ Pass? Datenanalysten haben neue Kennzahlen für die Spielanalyse entwickelt, die den Effekt eines gespielten Passes auf die gegnerische Organisation bestimmen sollen: Der I-Mov-Index bemisst die Summe der Bewegungen, die der Gegner als Reaktion auf den Pass durchführt, während der D-Def-Index ein Maß für die Stabilität des Gegners angeben soll. Beide Ansätze basieren auf Positionsdaten und geben an, wie wirksam ein Pass die gegnerische Verteidigung aus der Ordnung bringt. Im Gegensatz zu anderen Ansätzen geht das vertikale Passspiel nicht überbewertet ein. Das neu entwickelte Analysemodell berücksichtig hingegen die Interaktion mit den Gegenspielern und das Kreieren von Spielräumen.

Wann ist ein Pass ein guter Pass?

Bislang wird die Wirksamkeit von Pässen meist anhand von Beobachtungsanalysen beurteilt. Neben der Anzahl der Pässe und ihrer Vertikalität wird erfasst, ob der Pass beim angespielten Mitspieler ankommt oder nicht. Bei den oftmals mehr als 500 Pässen in einem Spiel sind diese Kriterien allein aber zu ungenau, um die Effektivität eines Passes für das Spiel angemessen zu beurteilen. „Viel entscheidender ist doch, ob der jeweilige Pass in der jeweiligen Situation die richtige Lösung war“, sagt Dr. Stephan Nopp, Spielanalyst der A-Nationalmannschaft beim DFB. „Je höher und größer Raum-, Zeit- und Gegnerdruck sind, desto präziser und schärfer muss der Pass gespielt werden.“

Bessere Antworten mithilfe von Big Data?

Datenanalysten gehen deshalb der Frage nach, wie mithilfe von Tracking-Daten die Qualität des Passspiels genauer erfasst und bewertet werden kann. Eine niederländische Studie hat dafür ein neues Rechenmodell entwickelt, das beschreibt, wie gut ein Pass die Organisation der gegnerischen Verteidigung stört. Das Modell soll helfen, effektive von weniger effektiven Pässen besser zu unterscheiden.Der Ansatz ist insofern wegweisend, als bisherige Modelle zur Evaluation des Passspiels meist keine situationsbedingten Variablen oder Parameter zur Interaktion mit dem Gegner in die Analyse mit einbezogen haben [1]. Bisher entwickelte Analysen gründeten auf der Annahme, dass nur solche Pässe als effektiv zu werten sind, die die Wahrscheinlichkeit eines Tors erhöhen oder eine Torchance eröffnet haben. Mit der Folge, dass in der Spielanalyse Berechnungen von torgefährlichen Pässen, die nach vorn gespielt wurden, methodisch mehr Gewicht erhalten haben, als andere Pässe [2, 3, 4]. Allerdings, so die Kritik der Studienautoren, wird so die taktische Qualität von Pässen für effiziente Offensivstrategien nicht angemessen beleuchtet. Denn ein Pass kann auch dann taktisch gesehen eine gute Aktion sein, wenn er dazu dient, gegen kompakt organisierte Gegner den Ballbesitz zu sichern oder das Überspielen von Gegnern vorzubereiten oder den Raum im Rücken des Gegners zu bespielen, um Kombinationsmöglichkeiten aufzubauen. Wie aber lässt sich diese komplexe Dynamik besser datentechnisch erfassen und das Passspiel aus taktischer Sicht angemessen bewerten?

Den Gegner aus der Ordnung bringen

Für ein sicheres Aufbauspiel in der Spieleröffnung, eine flüssige Ballzirkulation im Übergangsspiel und das Herausspielen von Torchancen braucht es präzise getimte und exakt gespielte Pässe. Ihr Erfolg bemisst sich sportwissenschaftlich betrachtet darin, wie gut es gelingt, die gegnerische Verteidigung zu stören und offensive Spielräume zu öffnen, um mehr Torchancen zu kreieren [5, 6]. „Um diese Qualität abzubilden, haben wir in unserer Studie raumzeitliche Tracking-Daten zusammengetragen und den defensive disruptiveness score (D-Def) entwickelt“, erklären die Studienautoren. Dieser Index misst erstmals die Auswirkung eines gespielten Passes auf die Organisation der Defensive. Berechnet wird der D-Def-Index aus den Bewegungsdaten der Spieler als unmittelbare Folge auf einen Pass.

Neuer Fokus für die Passbewertung

Der Mehrwert dieser Kennzahl für die Spielanalyse liegt darin, dass dieses neue Modell die Interaktionen beider Mannschaften in den Blick nimmt, statt sich darauf zu beschränken, ob ein Pass den Ball näher zum gegnerischen Tor transportiert oder nicht. Es betrachtet das Passspiel ganzheitlich und nimmt nicht nur vertikal Richtung Tor gespielte Pässe auf [3, 4], sondern bezieht auch horizontale oder rückwärts gerichtete Pässe in die Analyse mit ein. Damit wird die Kontrolle einer Mannschaft über die Spielräume und die durch das Passspiel erzwungenen Laufwege der verteidigenden Spieler angemessener beschrieben als Indikatoren wie die Passquote oder der Ballbesitzanteil. In ihr Rechenmodell haben die Datenanalysten Tracking-Daten aus 18 Spielen eines niederländischen Profivereins während einer Spielsaison gesammelt. Insgesamt 16.943 gezählte Pässe, von denen 10.481 den Passempfänger erreicht haben, sind in den Datensatz eingegangen. Das entspricht einer Passquote von 61,8 Prozent.

Der letzte Pass ist nicht immer der spielentscheidende

Die Datenanalyse gab auch Aufschluss darüber, welche Merkmale einen effektiven Pass auszeichnen. Das Ergebnis: Es kommt weniger auf den richtigen Passwinkel an, als auf die Passgeschwindigkeit, die Passlänge und die Präzision. „Ein Pass, der die Defensive des Gegners signifikant stört, ist unseren Daten nach zwischen 19 und 30 Meter lang und mindestens 10,7 Meter pro Sekunde schnell gespielt worden“, heißt es in der Studie. Bezogen auf die Einzelleistung der Spieler zeigte sich, dass Pässe vor allem dann effektiv waren, wenn sie kompakt stehende Gegner gezwungen haben, mehr Räume zu öffnen und mehr Vertikalpässe zuzulassen. Gute Passspieler zwingen den Gegner zu einer Vertikalverschiebung nach vorne und hinten, was typischerweise mehr Raum zwischen den Verteidigungslinien schafft.  Noch werden Spielerpositionsdaten vergleichsweise selten genutzt, um Kennzahlen wie einen Offensiv- oder Defensivindex zu berechnen. Meist werden Trackingdaten dazu genutzt, um zu prüfen, ob und wie gut ein Spieler seine Aufgaben umsetzt. Mit dem I-Mov-Index, sowie dem D-Def-Index sind Grundlagen gelegt, um aus den gesammelten Daten auch taktische Schlüsse ziehen zu können. Damit wird die Qualität des Passspiels als taktische Leistung von Spielern, aber auch von der Mannschaft als Ganzes messbar. So führt ein hoher D-Def-Index dazu, dass die gegnerischen Verteidiger bis zu 200 Meter weit laufen müssen, während ein niedriger Wert nur bis zu 20 Meter Laufbewegung führt. Das bedeutet: Hoch-disruptive Pässe können sich auch auf die Ermüdung des Gegners auswirken und sind damit ein potenziell spielentscheidender Faktor, gerade im letzten Viertel eines Spiels.

D-Def-Index ermöglicht noch keine Unterscheidung zwischen „guten“ und „schlechten“ Pässen

Zwar können die Studienautoren mit ihrem Rechenmodell beschreiben, ob ein Pass effektiv war oder nicht. Der Index lässt aber noch nicht auf den taktischen Gesamteffekt eines gespielten Passes auf die Spielentwicklung schließen, weil in die Modellbildung nur erfolgreiche Pässe einbezogen wurden. „Wenn die Pässe eines Spielers sowohl einen hohen I-Mov-Wert, als auch einen hohen D-Def-Wert zur Folge haben, aber nur 30 Prozent seiner Pässe einen Mitspieler erreichen, ist er womöglich kein guter Passspieler“, erklären die Autoren die Grenzen ihres Analysetools. So müsste künftig die Zahl der Pässe und die Passquote in die Index-Berechnung mit einfließen, um den D-Def-Index eines Spielers angemessen beschreiben zu können. Vorerst aber hilft das Modell, um in der Praxis Angriffsaktionen taktisch besser bewerten zu können und Rückschlüsse für das Training zu ziehen.

Die Inhalte basieren auf der Studie "Not every pass can be an assist: A data-driven model to measure pass effectiveness in professional soccer matches.", die 2019 im Journal „Big Data" veröffentlicht wurde.

Literatur

  1. Goes, F. R., Kempe, M., Meerhoff, L. A., & Lemmink, K. A. (2019). Not every pass can be an assist: A data-driven model to measure pass effectiveness in professional soccer matches. Big Data, 7(1), 57-70.
    Studie lesen
    1. Mackenzie R, Cushion C. Performance analysis in football: A critical review and implication for future research. Journal of Sports Sciences (2013) 31: 639-676

    2. Rein R, Raabe D, Memmert D. Which pass is better? Novel approaches to assess passing effectiveness in elite soccer. Human Movement Science (2017) 55: 172-181

    3. Link D, Lang S, Seidenschwarz P. Real time quantification of dangerousity in football using spatiotemporal tracking data. PloS One (2016) 11: e0168768

    4. Power P et al. Not all passes are created equal. In: Proceedings of the 23rd ACM SIGKDD International Conference on Knowledge Discovery and Data Mining (2017) 1605-1613

    5. Tenga A, et al. Effect of playing tactics on achieving score-box possessions in a random series of team possessions from Norwegian professional soccer matches. Journal of Sports Sciences (2919) 28: 245-255

    6. Tenga A, Ronglan LT, Bahr R. Measuring the effectiveness of offensive match-play in professional soccer. European Journal of Sports Sciences (2010) 10: 269-277