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Schätzung des skelettalen Alters von Nachwuchsspielern

Wie genau schätzen Trainer bzw. Athletiktrainer und Physiotherapeuten das skelettale Alter ein?

Talententwicklung
Medizin
Momentaufnahme eines dreitägigen Jugendfußballturniers.
    • Es existieren unterschiedliche Methoden zur Bestimmung der biologischen Reifung, welche sich gegenseitig ergänzen.
    • Im Durchschnitt konnten die Beteiligten das skelettale Alter von Nachwuchsspielern etwa monatsgenau vorhersagen – dies allerdings mit einer hohen Variabilität.
    • Das skelettale Alter wurde bei körperlich frühentwickelten Spielern konsistent unter- und bei körperlich spät entwickelten Spielern ebenso konsistent überschätzt.
    • Zur weiteren Sensibilisierung hinsichtlich der großen interindividuellen Unterschiede hinsichtlich der biologischen Reifeprozesse bedarf es der Implementierung von formalen unter informalen Edukationsstrategien.
Abstract

Die biologische Reife ist ein wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit der Talentidentifikation und den Entwicklungsprozessen bei Nachwuchsspieler*innen. Derzeit existieren unterschiedliche Methoden, um den biologischen Reifegrad einzuschätzen. Dabei gilt das skelettale Alter als objektivste und beste Methode zur Erfassung der biologischen Reifung. Vielen Vereinen ist die exakte Bestimmung des skelettalen Alters jedoch aufgrund des hohen logistischen und finanziellen Aufwands meist nicht möglich. Eine aktuelle Studie untersuchte daher die Genauigkeit der Schätzung des skelettalen Alters von Jugendfußballspielern der Altersgruppen U12 bis U16 durch deren Trainer sowie Athletiktrainer und Physiotherapeuten. Die Schätzungen lagen im Durchschnitt bei allen Beurteilenden nahe am tatsächlichen skelettalen Alter, wobei auf individueller Ebene eine relativ große Variabilität vorlag. Ein Hauptergebnis der Studie war, dass das skelettale Alter bei körperlich früh entwickelten Spielern unterschätzt und bei Spätentwicklern überschätzt wurde. Die Ergebnisse unterstreichen, dass sowohl für Fußballtrainer*innen als auch für Athletiktrainer*innen und Physiotherapeut*innen ein Bedarf an weiterer Aufklärung und Sensibilisierung besteht, insbesondere im Hinblick auf früh und spät entwickelte Spieler*innen, um die Identifizierung und Entwicklung von Talenten zu optimieren.

Hintergrund

Die biologische Reifung ist ein Aspekt, der die Prozesse der Identifikation, Selektion und Entwicklung von Talenten entscheidend beeinflusst. Der aktuelle biologische Reifestatus steht in Zusammenhang mit der Körpergröße, dem Körpergewicht, der Körperzusammensetzung und der physischen Leistungsfähigkeit bei Kindern und Jugendlichen. Nachwuchsspieler*innen innerhalb derselben kalendarischen Altersgruppe können sich in ihrem Reifestatus erheblich unterscheiden, wobei einige Spieler*innen im Vergleich zu ihren Altersgenoss*innen früher (akzeleriert) und andere später (retardiert) reifen [1]. Die unmittelbaren Auswirkungen dieser Asynchronität werden beispielsweise bei Sprint- und Kraftleistungen deutlich [2]. In der Regel sind körperlich akzelerierte Spieler*innen schneller und kräftiger als ihre kalendarisch gleichalten, jedoch retardierten Mitspieler*innen. Daher sind akzelerierte Spieler*innen überproportional häufig in den Nachwuchsakademien vertreten, während retardierte, aber fußballerisch nicht weniger talentierte Spieler nach und nach aussortiert werden. Vor diesem Hintergrund und zur richtigen Einordnung der aktuellen sowie prognostizierten physischen und fußballerischen Leistungsfähigkeit ist die Kenntnis des biologischen Reifegrads von immenser Wichtigkeit und deren Messung unerlässlich.

Methoden zur Bestimmung der biologischen Reifung

Es existieren zahlreiche Methoden zur Bestimmung des biologischen Reifegrads. Das Skelettalter (auch „Skelettreife“) gilt als genauester Indikator bei der Bestimmung des biologischen Alters [3]. Dabei werden Röntgenaufnahmen der Hand einer Person angefertigt und anschließend mit Referenzbildern abgeglichen, die dem Bevölkerungsstandard in verschiedenen Altersstufen entsprechen. Die Bestimmung des skelettalen Alters bedarf spezifischen Equipments sowie geschultem Personal. Eine weitere Methode zur Einschätzung des biologischen Reifegrads, welche keine Ressourcen benötigt und somit universal einsetzbar ist, ist das sogenannte Eyeballing, d. h., die visuelle Beurteilung der biologischen Reifung. Die subjektive Einschätzung des biologischen Reifegrads kann verwendet werden, wenn keine Ressourcen zur objektiven Messung verfügbar sind. Weiterhin kann das Eyeballing als ergänzendes informatives Edukationstool betrachtet werden, um Fußballtrainer*innen, Athletiktrainer*innen, Physiotherapeut*innen und weitere wichtige Interessengruppen, die an der Identifizierung, Auswahl und Entwicklung von Talenten beteiligt sind, hinsichtlich biologischer Reifeprozesse zu schulen. 

Was wurde in den beiden Studien untersucht?

In der vorliegenden Studie untersuchten Ruf und Kollegen, wie genau sowohl Fußballtrainer als auch Athletiktrainer und Physiotherapeuten das skelettale Alter der Spieler der U12 bis U16 eines Nachwuchsleistungszentrums schätzen konnten. Dazu wurde das skelettale Alter mittels Ultraschallverfahren (Messgerät: BAUSport von SonicBone) bestimmt. Innerhalb eines Zeitraums von drei Wochen gaben die verantwortlichen Trainer, Athletiktrainer und Physiotherapeuten die Schätzungen zum skelettalen Alter für jeden Spieler ihrer Altersgruppe unabhängig voneinander ab. Cheftrainer sowie Co-Trainer gaben dabei jeweils ihre eigene Schätzung ab, aus beiden Werten wurde anschließend der Mittelwert gebildet. Ähnlich wurde mit den Schätzungen der Athletiktrainer und Physiotherapeuten vorgegangen, indem der Mittelwert der Schätzung des jeweilig zuständigen Athletiktrainers und des Physiotherapeuten gebildet wurde. Die Fußballtrainer hatten keine Kenntnis hinsichtlich der Ergebnisse vorangegangener Untersuchungen zum skelettalen Alter der Spieler ihrer Altersgruppe. Im Gegensatz dazu erhielten die Athletiktrainer und Physiotherapeuten nach jeder Messung ein mündliches und informelles Feedback über das skelettale Alter der untersuchten Spieler.

Genauigkeit der Schätzung des skelettalen Alters durch Fußballtrainer sowie Athletiktrainer und Physiotherapeuten

Im Durchschnitt waren die Unterschiede zwischen geschätztem und tatsächlichem skelettalen Alter über alle untersuchten Altersgruppen hinweg trivial bis klein. Dies gilt sowohl für die Gruppe der Fußballtrainer (zwischen +0,1 bis 0,4 Jahre, dies entspricht einer Spanne von etwa 1,5 bis 6 Monaten) als auch Athletiktrainer und Physiotherapeuten (zwischen -0,2 bis -0,5 Jahre, dies entspricht ca. einer Spanne von etwa 3 bis 6 Monaten). Tendenziell wurde dabei das skelettale Alter über alle Altersgruppen hinweg unterschätzt, wobei die Fußballtrainer etwas genauer in der Schätzung waren als Athletiktrainer und Physiotherapeuten (vgl. ABB. 01 und TAB. 01).

Hohe interindividuelle Variabilität

Auf individueller Ebene ergab sich unabhängig von der Altersgruppe eine große Variabilität bei den Unterschieden zwischen geschätztem und tatsächlichem skelettalen Alter. Sowohl Fußballtrainer als auch Athletiktrainer und Physiotherapeuten waren, unabhängig vom Reifestatus der Spieler (d. h. prä-, circa- und post-pubertär), teilweise sehr ungenau in ihren Schätzungen. Dieser Umstand ist an den relativ großen Standardabweichungen (0,4-0,8 Jahre) in TAB. 01 zu erkennen. Darüber hinaus ergab sich ein einheitliches Muster in Form einer Unterschätzung des skelettalen Alters bei körperlich früh- sowie eine Überschätzung bei spätentwickelten Spielern. Bei Jugendfußballern im Alter von 11-15 Jahren gibt es erhebliche interindividuelle Unterschiede in der skelettalen Reifung [4]. Die Unterschiede zwischen dem skelettmäßig am wenigsten und dem am weitesten entwickelten Spieler betrugen zwischen drei und fünf Jahren (Unterschiede in Jahren: U12: 3,7; U13: 3,5; U14: 3,0; U15: 5,2; U16: 3,5). Im Gegensatz dazu waren diese Unterschiede bei den Schätzungen der Fußballtrainer (2,1 bis 3,3 Jahre) sowie Athletiktrainer und Physiotherapeuten (1,9 bis 3,4 Jahre) in allen Altersgruppen wesentlich geringer.

Fußballtrainer vs. Athletiktrainer und Physiotherapeuten – gab es Unterschiede? 

Das Fehlen eines substanziellen und bedeutsamen Unterschieds zwischen der Gruppe der Fußballtrainer sowie der Gruppe der Athletiktrainer und Physiotherapeuten unabhängig von der Altersgruppe war für die Autoren überraschend. Zur möglichen Ursache für dieses Ergebnis äußern sich die Wissenschaftler folgendermaßen. 

„Eine Erklärung dafür könnte sein, dass Fußballtrainer die fehlende formale Ausbildung im Bereich der biologischen Reifung durch ihre früheren Erfahrungen in der Arbeit mit Nachwuchsspielern unterschiedlicher oder gleicher Altersgruppen über mehrere Jahre hinweg im Rahmen der Akademie ausgleichen. Fußballtrainer verlassen sich daher stark auf ihr Bauchgefühl, um Entscheidungen auf der Grundlage ihrer akkumulierten Erfahrung zu treffen, das sowohl auf objektiven als auch auf subjektiven Informationen beruht, die sie im Laufe der Zeit gewonnen haben.“ 

Fazit

Die Ergebnisse dieser Studie unterstreichen, dass sowohl Fußballtrainer als auch Athletiktrainer und Physiotherapeuten Schwierigkeiten haben, das skelettale Alter von körperlich früh- und spätentwickelten Spielern genau zu schätzen. Dies macht deutlich, dass die großen interindividuellen Unterschiede im skelettalen Alter, die während der Adoleszenz innerhalb einer Altersgruppe bis zu fünf Jahre betragen können [5], nicht bekannt sind. Obwohl die Fußballtrainer, Athletiktrainer und Physiotherapeuten über eine mehrjährige Erfahrung im Nachwuchsfußball verfügten, deuten die Daten darauf hin, dass die regelmäßige Implementierung von Strategien für eine formale Edukation in Bezug auf die biologische Reifung essenziell ist. Die genaue Schätzung des Skelettalters von Nachwuchsfußballer*innen und insbesondere von körperlich früh- und spätentwickelten Spieler*innen spielt eine wichtige Rolle bei der Bewertung der Talentidentifizierung und der Entwicklung, insbesondere, wenn die Erhebung objektiver Daten zu Wachstum und Reife nicht möglich ist.

Die Inhalte basieren auf der Originalstudie „Soccer coaches vs. sport science and medicine staff: who can more accurately predict the skeletal age of high-level youth soccer players?“, die 2022 im Fachjournal „Science and Medicine in Football“ veröffentlicht wurde.

Literatur

  1. Ruf, L., Altmann, S., Kloss, C., & Härtel, S. (2022). Soccer coaches vs. sport science and medicine staff: who can more accurately predict the skeletal age of high-level youth soccer players? Science and Medicine in Football, 1-10.
    Studie lesen
    1. Malina, R. M., Peña Reyes, M. E., Figueiredo, A. J., Coelho E Silva, M. J., Horta, L., Miller, R., Chamorro, M., Serratosa, L., & Morate, F. (2010). Skeletal age in youth soccer players: implication for age verification. Clinical Journal of Sport Medicine, 20(6), 469-474.

    2. Meylan, C., Cronin, J., Oliver, J., & Hughes, M. (2010). Talent identification in soccer: The role of maturity status on physical, physiological and technical characteristics. International Journal of Sports Science & Coaching, 5(4), 571-592.

    3. Malina, R. M., Rogol, A. D., Cumming, S. P., e Silva, M. J. C., & Figueiredo, A. J. (2015). Biological maturation of youth athletes: Assessment and implications. British Journal of Sports Medicine, 49(13), 852-859.

    4. Ruf, L., Cumming, S., Härtel, S., Hecksteden, A., Drust, B., & Meyer, T. (2021). Construct validity of percentage of predicted adult height and BAUS skeletal age to assess biological maturity in academy soccer. Annals of Human Biology, 48(2), 101-109.

    5. Johnson, A., Farooq, A., & Whiteley, R. (2017). Skeletal maturation status is more strongly associated with academy selection than birth quarter. Science and Medicine in Football, 1(2), 157-163.