Der Weg zum Titel-Double mit der U17

Blogbeitrag von Christian Wück im Dezember 2023

    • arbeitet seit 2012 als U-Nationaltrainer beim DFB
    • trainierte zuvor Rot-Weiss Ahlen und Holstein Kiel in der zweiten und dritten Liga
    • bestritt als Profi 168-Bundesligaspiele für Nürnberg, Karlsruhe und Wolfsburg

2023 war ein ganz besonderes Fußballjahr. Wie soll es auch anders sein? Mit zwei Titeltriumphen innerhalb von nur sechs Monaten haben wir etwas Großartiges geschafft. Europameister in Ungarn, Weltmeister in Indonesien. Hätte ich mir dieses Szenario zu Jahresbeginn vorstellen können? Ja, denn die Entwicklung der Jungs zeigte in genau diese Richtung. Uns war bewusst, dass wir einen starken Jahrgang haben, der in der Lage ist, sich mit jeder Nation zu messen. Aber natürlich lief in den drei gemeinsamen Jahren, die wir als Trainerteam mit der Mannschaft verbringen durften, nicht immer alles wie gewünscht. Der Ursprung des Erfolgs lag sogar im größten Tiefpunkt…

Die Qualifikationsphase

Während einer Länderspielreise in Frankreich, damals noch als U16, erlebte ich die schlechteste Trainingseinheit meiner elfjährigen Amtszeit beim DFB. Eine einzige Enttäuschung – technisch, taktisch, aber auch im Hinblick auf die Körpersprache und die Einsatzbereitschaft. Es war enttäuschend und emotionslos, was die Jungs an diesem Tag zeigten und das durfte nicht folgenlos bleiben. In einem Stuhlkreis setzten wir uns mit der Mannschaft zusammen und stellten ihr zwei Fragen: Wie wollt ihr von anderen wahrgenommen werden? Und wer wollt ihr sein? Als U-Nationalspieler des DFB, aber auch als Persönlichkeit? Es ging um Grundsatzfragen zur Haltung und zur Auffassung von Leistungssport. Gemeinsam sammelten die Jungs in der großen Runde Eigenschaften, die sie auszeichnen sollten. Es fielen Begriffe wie Aufopferungsbereitschaft, Cleverness oder Zielstrebigkeit. 

Damit wollten wir arbeiten und legten uns eine passende Identität zu. Fortan waren wir die Panther, analog zu den Helden aus dem gleichnamigen Film. Wir wollten böse sein und die anderen Nationen sportlich erobern. Die Aufgabe des Trainerteams war es nun in diese Identität sportliche Inhalte zu packen. Wir wollten dominant sein – durch unser Spiel, unsere Körpersprache und unser gesamtes Auftreten. Unsere Gegentorquote bei der EM wollten wir unter eins pro Spiel halten, denn laut Statistik haben sich fast alle Europameister der vergangenen Jahre mit diesem Wert ausgezeichnet. Ich nehme es an dieser Stelle vorweg: Mit fünf Gegentreffern in sechs Turnierspielen sollte uns dieses Vorhaben auch gelingen. Unser drittes Ziel widmete sich dem Verteidigen und Verwerten von Standardsituationen. Wir hielten alles in einem kleinen Imagefilm fest, den die Jungs selbst produzierten. Ein Werk aus der Mannschaft für die Mannschaft!

Der Kurs des Teams war gesteckt! Aber wer steckte eigentlich alles in diesem Team? Wer waren die einzelnen Spieler und Menschen? Wir wollten jeden in den Mittelpunkt rücken und zeigen, dass jeder Einzelne wichtig und richtig ist. Deshalb entwickelten wir individuelle Playercards, versehen mit einem persönlichen Hashtag und drei Charaktereigenschaften. Auf diese Weise haben wir den Jungs noch einmal verdeutlicht, warum wir sie bei uns haben wollten und was wir an ihnen schätzen. Der Hashtag war für jeden Spieler wie ein eigener Titel. Ab sofort spielten #Maschine, #Flash, #Allesrichtigmacher oder #Freistossgott für unser Team. Begriffe, mit denen sich die Jungs identifizieren konnten und die das Selbstbewusstsein und Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt haben. 

Den Panthern gelang die Qualifikation für Ungarn. Mit guten und mit weniger guten Leistungen. Prägend war in dieser Zeit vor allem der Vergleich mit Uruguay beim Vier-Nationen-Turnier in Duisburg. Die Spielweise des Gegners beeindruckte in mehrerer Hinsicht. Die Mentalität und die Zweikampfstärke glichen bereits dem Erwachsenenfußball. Auch die Lautstärke war enorm. Unsere Spieler wurden von den Uruguayern in einer Tour und in jeder Situation vollgequatscht. Diese Erfahrung in dieser Dimension war völlig neu für uns. Wir haben uns davon beeinflussen lassen und das Spiel verloren. Eine Lektion, aus der wir lernen sollten, denn Mentalität schlug das Talent. Soll heißen, der Gegner war auf allen Positionen schlechter besetzt als wir, aber dennoch verloren wir das Spiel 1:3.

Die EM-Vorrunde

Es ging super los! Wir marschierten durch die Gruppenphase. Gegen Portugal, ein Team, das wir in den Jahren zuvor nie haben besiegen können, gewannen wir 4:0. Im zweiten Spiel lagen wir gegen Frankreich zur Pause zwar 0:1 zurück, drehten die Partie nach dem Seitenwechsel aber noch zu einem 3:1. Die Mannschaft zeigte eine tolle Reaktion, als hätte uns der Rückstand nur noch stärker gemacht. Alle drei Treffer erzielten wir innerhalb von nur sieben Minuten. Das abschließende Spiel gegen Schottland gewannen wir schließlich 3:0. Das Schöne neben dem Gruppensieg: Gleich sechs unserer Treffer fielen nach Standardsituationen. Damit lösten wir ein weiteres Versprechen ein, das wir uns in der Vorbereitung gegeben hatten. 

Die K.o.-Runde

Da es keine Verlängerung gab, konnte es ab sofort in jedem Spiel schnell zu einem Elfmeterschießen kommen. Wir wollten das Thema aufgreifen und veranstalteten einen kleinen Workshop. Einen Exkurs quer durch die Geschichte des Elfmeterschießens. Wir erzählten die Anekdote von Jens Lehmann und seinem Spickzettel im WM-Viertelfinale 2006 gegen Argentinien. Oder von Portugals Ricardo, der zwei Jahre vorher bei der EURO im Shoot-out gegen England seine Handschuhe auszog und zum Helden wurde. Vor allem aber wollten wir den Jungs drei Dinge mit auf den Weg geben, die ihnen den Gang zum Elfmeterpunkt erleichtern sollten. Erstens: Kontrolliert das, was ihr kontrollieren könnt. Lasst euch Zeit und entscheidet selbst, wann ihr schießt. Zweitens: Feiert eure Tore! Eine Statistik besagt, dass in den meisten Fällen die Mannschaft gewinnt, die ihre eigenen Treffer lautstark bejubelt. Gemeint ist nicht nur der Schütze, sondern auch die anderen Spieler an der Mittellinie sowie die auf der Auswechselbank. Im Jubel wollten wir unsere Dominanz zeigen, die wir uns ein Jahr zuvor als Identitätsmerkmal angeeignet hatten. Und drittens: Trefft nur einmal die Entscheidung, wo ihr hinschießen wollt! Frei nach dem Motto: Der erste Gedanke ist auch der richtige. 

Der Zufall wollte es so, dass direkt das Viertelfinale gegen die Schweiz im Elfmeterschießen entschieden werden musste. Nach einem Spiel, das lange gegen uns lief. Bereits nach einer Viertelstunde kassierten wir einen Platzverweis und mussten die verbleibenden 75 Minuten in Unterzahl bestreiten. Aber weder das noch der zwischenzeitliche Rückstand hat den Willen der Mannschaft brechen können. Und ich glaube, dass der Workshop auch seinen Teil dazu beigetragen hat, dass wir vom Elfmeterpunkt so cool geblieben sind.

Das EM-Endspiel

Nach einem 5:3-Erfolg über Polen war das Endspielticket gelöst. Zwei Tage vor unserem Spiel sollte in Budapest ein weiteres Finale stattfinden – das der Europa League zwischen dem FC Sevilla und AS Rom. Natürlich fragten mich die Spieler, ob sie ins Stadion dürfen. Wir diskutierten im Trainerteam: Ist es richtig, die Jungs knapp 48 Stunden vor so einem wichtigen Spiel spätabends in die Stadt zu lassen? Meine erste Reaktion war: Nein, die brauchen Ruhe. Die müssen schlafen. Aber dann kam mir ein zweiter Gedanke: So ein Finale live mitzuerleben, ist doch ein tolles, unvergessliches Erlebnis. Das bringt viel mehr für den Kopf! Wir haben sie fahren lassen, ohne Trainer und nur begleitet von drei Mitgliedern aus unserem Funktionsteam. Kurz vor 3 Uhr waren alle wieder zurück im Hotel und am nächsten Morgen saßen die Jungs pünktlich am Frühstückstisch. Wir haben ihnen vertraut und sie haben uns nicht enttäuscht. Im Nachhinein ärgere ich mich, dass ich mir diese Frage ob ja oder nein überhaupt gestellt habe.

Das Finale gegen Frankreich rückte näher. Am Vorabend stand die obligatorische Gegnervorbereitung an. Doch ich fragte mich: Was soll ich der Mannschaft eigentlich erzählen? Dreimal haben wir in der Vergangenheit gegen die Franzosen gespielt. Wir kannten ihre Aufstellung, ihre Taktik, ihre Stärken und Schwächen. Ich hätte nichts Neues sagen können. Deshalb brachen wir mit der Routine und schauten lieber auf uns. Es gab ein Motivationsvideo mit unseren besten Szenen aus dem laufenden Turnier und kleinen Interviews mit Kolleg*innen aus unserem Funktionsteam, die erklärten, warum sie diese DFB-Jahrgangsmannschaft für eine ganz besondere hielten. Ein weiteres Video folgte am nächsten Tag. Wir hatten die Vereine der Spieler kontaktiert und sie um Grußbotschaften gebeten – zum Beispiel vom Cheftrainer der Profis oder dem Sportdirektor. Alle Clubs haben geliefert und die Überraschung glückte!

Auf dem Platz hingegen klappte nicht alles. Wir zeigten im Endspiel unsere schwächste Offensivleistung des Turniers. Doch wir hielten die Null und wie schon im Viertelfinale gegen die Schweiz fiel die Entscheidung vom Elfmeterpunkt. Hatten sich zwei Runden zuvor noch acht Spieler freiwillig gemeldet, waren es jetzt nur noch vier. Doch wir konnten einen fünften überzeugen und der Krimi nahm ein gutes Ende: Mit dem ersten deutschen U17-Europameistertitel seit 2009. 

Der WM-Titel 

Mit dem Einzug ins EM Halbfinale waren wir auch für die Weltmeisterschaft im November in Indonesien qualifiziert. Eigentlich hätten wir als Trainerteam die Mannschaft bereits im Sommer abgeben und uns vollständig der neuen U15 widmen sollen. Aber sinnvollerweise bleibt für die WM das alte Trainerteam bestehen. Noch einmal ging es mit dem Team auf Reisen. Was wir in Südostasien anders gemacht haben als in Ungarn? Nun, eigentlich nicht viel! Wir hielten an dem fest, was uns bei der EM ausgezeichnet hatte. 

Zum Beispiel brauchten wir erneut die Cool- und Cleverness vom Elfmeterpunkt, um uns in den Spielen gegen Argentinien und Frankreich durchzusetzen. Vor der Partie gegen die Südamerikaner holten wir uns den Rat einiger Experten. Guido Buchwald, dessen Name für viele unserer Jungs völlig unbekannt war, erzählte von seinen Erlebnissen aus dem WM-Finale 1990, in dem er Diego Maradona in gemeinsamen Zweikämpfen vor unlösbare Probleme stellte. Mario Götze erinnerte sich an die Vergleiche mit den Südamerikanern aus seiner Zeit als Spieler in den U-Teams. Dass er später in der A-Nationalmannschaft noch ein wichtiges Tor gegen Argentinien erzielte, ließ er in seiner Videobotschaft interessanterweise unerwähnt. Ich bin mir übrigens sicher, dass uns in dieser Partie auch die Erfahrungen aus dem Uruguay-Spiel in Duisburg geholfen haben. Argentinien spielte ähnlich. Sie waren laut, aggressiv und abgezockt. Aber darauf waren wir vorbereitet.

Bereits in den vorherigen K.o.-Spielen gegen die USA (3:2) und Spanien (1:0) wurden Leidenschaft und mentale Stärke zu wichtigen Begleitern. Auch deshalb, weil wir spielerisch nicht immer unsere Linie fanden. Die Spieler waren so sehr von der eigenen und der gemeinsamen Stärke überzeugt, dass uns dieser Spirit bis ins Endspiel trug. Wieder wartete Frankreich, die einige neue Spieler an Bord hatten. Im Gegensatz zum EM-Finale hielten wir dieses Mal unsere obligatorische Gegneranalyse ab. Die Jungs setzten alles prima um. Aber nach dem Platzverweis gegen uns sowie dem späteren Ausgleichstreffer zum 2:2 war einmal mehr der Panther-Modus gefragt. Die Mannschaft trotzte den Temperaturen, der Luftfeuchtigkeit und den schwindenden Kräften. Nicht nur das Ergebnis, der WM-Titel, erfüllt mich als Trainer mit Stolz, sondern vor allem auch die Art und Weise, wie wir uns diesen Erfolg erspielt, erkämpft und erarbeitet haben. 

Was bleibt?

Vor allem die Erkenntnis, dass es im Fußball nicht allein auf die taktische Idee und ihre Umsetzung ankommt. Wir haben es immer einfach gehalten und in den gut drei Jahren, in denen wir mit der Mannschaft zusammenarbeiten durften, nur wenige sportliche Themen gespielt. Unsere Tugenden sowie die fünf defensiven und fünf offensiven Leitlinien standen auf dem Programm. Maximal zwei davon haben wir uns pro Lehrgang vorgenommen. Das war’s! Andere Themen waren uns wichtiger: Leidenschaft, Teamgeist, Vertrauen, Zusammenhalt und der unbedingte Glaube an die eigenen Stärken. Das war unser Einsatz und den haben wir doppelt wieder herausbekommen – mit dem EM- und dem WM-Titel in einem für mich persönlich ganz besonderem Fußballjahr. 

Wir haben es immer einfach gehalten und in den gut drei Jahren, in denen wir mit der Mannschaft zusammenarbeiten durften, nur wenige sportliche Themen gespielt. Unsere Tugenden sowie die fünf defensiven und fünf offensiven Leitlinien standen auf dem Programm. Maximal zwei davon haben wir uns pro Lehrgang vorgenommen. Das war’s!
Christian Wück