Bolzplatzambiente schaffen: Ein Plädoyer für das freie Spielen

Blogbeitrag von Marc-Patrick Meister im September 2022

    • U-Nationaltrainer beim DFB im Ausbildungsbereich U15 bis U17
    • Langjähriger Nachwuchstrainer in den Leistungszentren von Borussia Dortmund, des Hamburger SV und beim Karlsruher SC
    • Auslandsstation beim südkoreanischen Erstligisten Ulsan Hyundai
    • Erster deutscher Absolvent des Master-Studiengangs "Fußball und Talententwicklung" an der Escuela Universitaria de Real Madrid

Die letzte Augustwoche habe ich in Madrid verbracht und im Rahmen von Kurz-Hospitationen drei der vier „großen“ Stadt-Clubs besucht: die Jugendabteilungen von Real und Atletico Madrid sowie die von Rayo Vallecano. Hier, in Spaniens Hauptstadt, wird Fußball gelebt. Sobald die Hitze etwas weicht, spätestens mit Einbruch der Dämmerung, erleuchten gefühlt hunderte von Flutlichtanlagen über der Metropole, und alle kommen raus zum Fußball spielen – organisiert und unorganisiert, leistungsbezogen, aus kommerziellen Gründen (zahlreiche Fußballschulen sind hier ansässig) oder „einfach nur so“ zum Spaß. Dieses „Fußball atmen“ und der Spaß am Spiel liegen förmlich in der Luft, getragen vom tollen Klima und dem Wissen, dass jede Minute zählt, weil man nach 90 Minuten für die nächste Gruppe die Fläche räumt – die natürlich schon längst draußen wartet und zuschaut.

Das unorganisierte Spiel ist meist am interessantesten zu beobachten: Permanentes Kämpfen um den Ball und mutige Dribblings wechseln sich ab mit langen Rededuellen („Drin oder nicht!?“, „Foul oder nicht?“) sowie ausgelassenem Torjubel. Es macht allen Spaß: den Spieler*innen wie auch den Beobachter*innen. Oft wird auf reduzierten Spielfeldern gespielt, zugunsten einer höheren Anzahl von Ballmomenten und Torraumszenen. Die kurzen Wege zwischen den beiden Toren fordern Aktivität und ein hohes Maß an Kommunikation ein, gemäß dem Motto „Reden gewinnt Spiele!“. Es ist laut, es ist emotional. Der Wille, sich unbedingt durchsetzen zu wollen, ist allen anzumerken. Ziel ist es, schon bald als Favoritenteam zu gelten oder einer der Stärkeren zu sein, die zukünftig als Erstes gewählt werden. Deshalb gilt: Sofort wieder aufstehen, wenn ein Ball oder ein Zweikampf verloren geht und seinen Standpunkt in Diskussionen gegenüber Mit- und Gegenspieler*innen stark zu vertreten oder sogar zu verteidigen. Aspekte, die ich für die sportliche, aber auch für die persönliche Entwicklung, als sehr wichtig erachte.

Aber leider sind es oft wir, die Trainerinnen und Trainer, die eingreifen und mit dem ordnenden Pfiff das unorganisierte Spiel aushebeln. Der Gedanke, der mich hierzu beschäftigt: Spricht denn etwas dagegen, wenn wir innerhalb der Trainingswoche (beinahe hätte ich geschrieben „unserer“, dabei gehört sie den Spieler*innen) feste Zeitbudgets einplanen, zu denen wir unser Team frei spielen lassen, ohne Reglementierungen oder Anweisungen von außen? Trainingsabschnitte, in denen wir uns zurückziehen, ausschließlich beobachten, die Gruppe entscheiden und machen lassen? Ein Strategiewechsel, der natürlich trainiert werden muss: Denn wenn Du es nicht gewohnt bist, einfach mal den Mund zu halten und zuzuschauen, kostet Dich das am Anfang eiserne Disziplin – oder die Beziehung zu Deinem Co-Trainer oder deiner Co-Trainerin, die die Aufgabe haben, Dich hinzuweisen. 

Wenn wir der Meinung sind, dass die oben genannten Merkmale für Fußballspieler*innen wichtig sind und sie davon profitieren, dann müssen und können wir den Rahmen dafür schaffen. Ein Bolzplatzambiente, dass unseren Spieler*innen den nötigen Freiraum bietet. Ich bin mir sicher: Wenn es uns Trainerinnen und Trainern gelingt,  einen Schritt zurückzutreten und uns weniger wichtig zu nehmen, werden wir staunen, zu was unsere Talente alles zu kreieren im Stande sind. Wir haben diesen Schritt gewagt. Selbst während unserer Qualifikationsrunden für die U17-Europameisterschaft geben wir Raum für „freie Trainingszeiten am Platz“ oder für das „Freie Spiel“ – die Spieler danken es uns und füllen es mit Leben.

Zum Schluss eine Beobachtung aus der Trainingspraxis: In vielen Akademien in Spanien wird die ständige Diskussion um „Aus!“ oder „Nicht Aus!“ umgangen, indem die Markierungshütchen für den Übungsaufbau lediglich eine Orientierungshilfe sind. Somit geht das Spiel immer weiter. Das hat zur Folge, dass die Offensiven lernen, sich gar nicht erst anmerken zu lassen, dass der Ball über der Spielfeldgrenze war, und so stets das Beste aus der Spielsituation herausholen können. Nennen wir es spielschlau oder clever. Aber auch für die Defensiven lohnt es sich durch diese kleine Anpassung immer, den Zweikampf entschlossen und aggressiv anzunehmen - kein Pfiff bremst sie aus, der Einsatz wird immer belohnt:  Es besteht immer die Chance auf die Balleroberung! Eine Win-Win-Konstellation für alle, die den Spielfluss und die Handlungsschnelligkeit fördert. Ausprobieren!

Spricht etwas dagegen, wenn wir innerhalb der Trainingswoche feste Zeitbudgets einplanen, zu denen unser Team frei spielt, ohne Reglementierungen oder Anweisungen von außen?
Marc-Patrick MeisterU-Nationaltrainer