3 Fragen an

GUIDO STEICHSBIER – SPORTLICHER LEITER DER WM-ANALYSE 2022

Taktik & Spielanalyse
    • Seit 2014 beim DFB
    • Cheftrainer diverser U-Nationalmannschaften von der U18 bis U20
    • Sportlicher Leiter des Analyse-Stabes bei den FIFA-Weltmeisterschaften 2018 und 2022
    • Aktueller U19-Nationaltrainer
1. Benötigen wir eigentlich eine aufwendige Analyse internationaler Turniere und Wettbewerbe? Mit den Leitlinien unserer Spielauffassung wissen wir doch eigentlich, wie wir im deutschen Fußball spielen lassen wollen?

Die Spielauffassung fasst klare, anschauliche Leitlinien zusammen, die einen attraktiven, zukunftsorientierten und vor allem erfolgreichen Fußball ausmachen – und das für alle Phasen des Spiels. Einerseits sind dabei Spielelemente des internationalen Fußballs eingeflossen, die erkennbar eine höhere Spieleffizienz und Spielerfolge ermöglichen. Andererseits greifen diese Leitlinien die besonderen Stärken des deutschen Fußballs auf. Diese Fußball-Vision bildet damit bis weit in die Zukunft hinein einen konstanten und sicheren Wegweiser für jeden Trainer – egal in welcher Spiel- und Altersklasse.

Die Spielauffassung ist einerseits dauerhaft, andererseits aber kein für alle Zeiten fertiges Produkt. Sie ist ein dynamischer Prozess, der jedoch nicht den Kern der konstanten Leitlinien, sondern in erster Linie Anpassungen und Optimierungen im Detail umfasst. Eine detaillierte WM-Auswertung ermöglicht somit eine aktuelle und fundierte Bewertung und Einstufung unseres Fußballs im Vergleich zur übrigen internationalen Spitze. Mit dieser Blickrichtung ist es hochinteressant, zu analysieren, ob und wie andere Nationalmannschaften diese Prinzipien in die eigene Spielkonzeption integrieren und letztlich auf dem Feld praktizieren.

2. Welche Spielsysteme wurden eigentlich bei der WM 2022 favorisiert?

Die Zuteilung einer fixen taktischen Grundformation zu einem Team gibt eigentlich nie die Spielrealität wieder. Die Fixierung und Zuweisung eines bestimmten Systems bleibt stets ein Theorie-Konstrukt, denn mit jeder Aktion und jeder situationsspezifischen Positionsanpassung vermischen sich Formationen und Positionsgruppen permanent. Um bei dieser Komplexität dennoch einen gewissen Überblick über vorrangig praktizierte Basis-Systeme der WM-Teams zu bekommen, kann somit lediglich eine begrenzt aussagekräftige Zuteilung vorgenommen werden.

Bei der Weltmeisterschaft 2022 setzte sich der Trend zu einer großen Variationsbreite der praktizierten Grundformationen fort: vom klassischen 4:2:3:1, über variable Defensivblöcke mit Dreier- bzw. Viererkette bis hin zu der ganzen Palette an Angriffsformationen mit einem, zwei oder drei Angreifern. Resultat war ein breites Spektrum verschiedenster Systeme.

Die meisten Teams fixierten sich im Turnier nicht auf ein konstantes, relativ starres System, sondern sie variierten die Formationen im Turnier- oder sogar Spielverlauf. Mit diesen Anpassungen reagierten die Trainer einerseits u. a. auf festgestellte Defizite, Dysbalancen, nicht optimal funktionierende Automatismen, individuelle Formkurven des eigenen Teams. Auffälligstes Beispiel hierfür war vermutlich der Doppel-Wechsel Frankreichs noch vor dem Halbzeit-Pfiff des WM-Finales.

Andererseits war eine mögliche Systemanpassung auch die Basis für einen funktionierenden „Matchplan”, der auf analysierte Teamstrukturen, Stärken und Schwächen des Gegners abgestimmt war. System-Variabilität als Basis einer herausragenden taktischen Variabilität je nach Gegner, Turniersituation oder Spielverlauf war zusammengefasst eine hervorstechende Qualität der Top-Mannschaften.

3. Was waren die auffälligsten Konsequenzen der extrem kurzen Vorbereitungszeit auf die WM 2022?

Beim Großteil der WM-Teams dominierte das Prinzip „Sicherheit zuerst” bei der Spielkonzeption in der Defensive. Klares Indiz hierfür war eine kompakte Organisation im Mittelfelddrittel oder noch tieferen Zonen vor dem eigenen Strafraum. In diesem tief gestaffelten, dichten Defensivverband sollten dann Bälle erobert werden. Eine gewisse Risikovermeidungsstrategie dominierte bei den meisten WM-Teams. Indiz hierfür ist, dass sich der Anteil an Kontertoren direkt nach einer Balleroberung gegenüber letzten Turnieren weiter reduzierte. Diese Stabilität basierte dabei auf einer „Defensivlust“ , die sich durch Leidenschaft, Willensstärke und Teamwork auszeichnete.