Spielanalyse

Atlético Madrid – zurück zur alten Stärke

Diego Simeones Mannschaft gehört auch in der Saison 2024/25 wieder zu den besten Teams der Welt.

Atlético Madrid bejubelt den späten Siegtreffer gegen den FC Barcelona.
  1. Marius Fischer

    Marius Fischer ist Spielanalyst bei Viborg FF in der dänischen Superliga. Zudem ist er Autor der DFB-Trainerzeitschrift „Fußballtraining“ und analysiert Qualitätsmerkmale im internationalen Fußball. Marius' LinkedIn-Profil

3, 1, 3, 3, 3, 2, 2, 3, 1, 3, 3, 4 – was sich wie ein Code liest, sind die Abschlussplatzierungen in La Liga von Atlético Madrid in Diego Simeones Amtszeit. Eine beeindruckende Konstanz, die in Europa einmalig ist. Viele Trainer halten sich sogar fest an die "Drei-Jahres-Regel" und bleiben freiwillig nur eine vergleichsweise kurze Zeit bei einem Verein – danach nutzen sich Trainings- und Motivationsmethoden häufig sehr schnell ab und der Erfolg bleibt aus. Nicht so bei Simeone und Atlético Madrid. So haben sich die "Los Colchoneros" in der laufenden Saison im Schatten vom FC Barcelona und Real Madrid erneut zum Titelaspiranten entwickelt und führen die Liga aktuell sogar mit einem Punkt Vorsprung an (Stand: 19. Spieltag).

Zurück zur alten Stärke

Das Markenzeichen von Atlético Madrid ist seit vielen Jahren eindeutig die Defensivstärke. Der "Titel" für die wenigsten Gegentore ist unter Simeone fast zur Gewohnheit geworden. Zu Spitzenzeiten kassierte die Mannschaft zeitweise weniger als 0,5 Treffer pro Spiel und spielte regelmäßig zu Null. Dieses Bollwerk ist in den vergangenen zwei bis drei Spielzeiten etwas abhandengekommen: Atléticos Kader erlebte einen Umbruch und Simeone probierte in dieser Phase taktisch einige neue Dinge aus – mehr Ballbesitz und mehr Offensivgefahr waren das Ziel. Zeitweise rückte er sogar von seiner 4-4-2-Stammformation ab und wechselte zur Dreierkette. Obwohl der ganz große tabellarische Absturz ausblieb, konnte Atlético nach dem Titelgewinn 2021 nicht mehr mit Stadtrivalen Real Madrid mithalten. Auch in der Champions League blieben nach den zwei Finalniederlagen zwischen 2014 und 2016 die großen Erfolge aus. Mittlerweile ist das 4-4-2-System zurückgekehrt und mit ihm auch die Defensivstärke: Zwölf Gegentore in neunzehn Spielen (zehn davon ohne Gegentor) sind Bestwert in La Liga.

Kompaktes Mittelfeldpressing

Atléticos PPDA-Wert (Anzahl der erlaubten Pässe, bis es zu einer Defensivaktion kommt) liegt bei 14.89. Ein solch hoher Wert ist für Topteams eigentlich eher unüblich, da sie zumeist in allen Spielphasen versuchen zu dominieren und den Gegner durch hohes Pressing zu schnellen Ballverlusten zwingen möchten. Der FC Barcelona unter Hansi Flick erreicht hier zum Beispiel in der laufenden Saison einen Spitzenwert von 7.82. Atlético legt den Fokus jedoch lieber auf ein kompaktes Mittelfeld- und Abwehrpressing. Aus dem bereits erwähnten 4-4-2 agieren alle Spieler äußerst diszipliniert – hervorzuheben ist vor allem das hervorragende Absichern der Mittelfeldspieler: Verlässt einer der Außenverteidiger im Pressing seine Position, schließt ein Mitspieler aus dem Zentrum sofort den dadurch entstandenen Raum. Auch im Aufnehmen von gegnerischen Tiefenläufen ist Atlético top – selbst die Offensivspieler verfolgen ihren Gegenspieler teilweise bis weit in die eigene Hälfte. Durch die zeitweise sehr tiefe Position der äußeren Mittelfeldspieler entsteht situativ oft eine Fünfer- oder sogar Sechserkette, die nochmals schwerer zu durchbrechen ist. So kommen die Gegner nur selten zu einfachen, ungehinderten Torabschlüssen.

    1. Der gegnerische IV passt zum RV. Gallagher läuft den RV an.

    2. Der RV passt zum andere IV, der von Sorloth angelaufen wird.

    3. Mit dem erneuten Pass zum RV sprintet Gallagher wiederum raus.

    4. Den Pass unter Druck ins Zentrum fängt Sorloth ab.

    1. Der gegnerische IV wird von Simeone angelaufen.

    2. Der IV passt zum ZM, der ins Zentrum dribbelt ...

    3. ... und zum RV passt, der von Riquelme angelaufen wird.

    4. Der RV spielt einen Vertikalpass. Mandava setzt den Passempfänger unter Druck und provoziert so einen Ballverlust.

Konterstärke

Dieser defensive Spielstil bringt natürlich eine große Konterstärke mit sich. Um sich gegen Atlético Torchancen herauszuspielen, müssen die Gegner bei ihren Angriffen viele Spieler einsetzen. Gewinnt die Mannschaft von Diego Simeone aus ihrem tiefen Mittelfeld- oder Abwehrpressing heraus dann den Ball, schalten sie blitzschnell um und kontern in den oft sehr offenen, freien Raum. Ein Drittel ihrer Tore erzielten sie mit diesem Vorgehen in der laufenden Saison. Vor allem die schnellen Stürmer und die beiden Neuzugänge Alexander Sørloth und Julián Álvarez passen perfekt zu Atléticos Konterfußball.

    1. Nach einem Ballgewinn passt Álvarez in den Lauf von De Paul.

    2. De Paul passt in den Lauf von Molina, ...

    3. ... dessen flache Hereingabe von Sorloth verwertet wird.

    1. Da Paul fängt einen Pass im Zentrum ab und spielt in die rechte Außenspur zu Simeone, ...

    2. ... der im Tempodribbling seinen Gegenspieler überwindet ...

    3. ... und zu Griezmann passt.

    4. Griezmann spielt einen Doppelpass mit Álvarez und erzielt per Direktabnahme ein Tor.

Schnelles Vertikalspiel

Bei eigenem Ballbesitz baut Atlético zumeist in einer 4-1-Struktur auf. Einer der zentralen Mittelfeldspieler agiert dabei als Sechser, der andere sorgt zusammen mit einem sich fallen lassenden Stürmer für tiefe Anspielstationen in den Halbspuren. Aus dieser Grundordnung heraus forciert Trainer Simeone ein schnelles Vertikalspiel statt langer Ballzirkulation – ihr Ballbesitzwert liegt mit 50 Prozent nur im Mittelfeld der Liga. Vor allem lange Diagonal- und Chippässe auf die einlaufenden Außenverteidiger und Schnittstellenpässe aus der Zentrumsspur fungieren dabei bisher als effektive Angriffsmittel. Bei letzterem agieren die beiden Stürmer Antoine Griezmann und Julián Álvarez sehr harmonisch: Der eine lässt sich dabei etwas fallen, um einen Gegenspieler herauszuziehen – den dadurch entstandenen Raum nutzt der jeweils andere anschließend für einen Tiefenlauf hinter die Abwehrkette.

    1. Lenglet passt auf Galán, der in den Lauf von Barrios weiterleitet.

    2. Barrios dribbelt in die Zentrumsspur ...

    3. ... und passt zu De Paul, der in die rechte Außenspur auf Griezmann verlagert.

    1. De Paul passt zu Barrios.

    2. Barrios spielt einen hohen Diagonalpass hinter die Abwehrkette auf Molina, ...

    3. ... der nach einem Doppelpass mit Griezmann ...

    4. ... aufs Tor abschließt.

    1. Barrios spielt aus der Zentrumsspur heraus einen Chippass hinter die Abwehrkette auf Llorente.

    2. Llorente flankt auf Griezmann, ...

    3. ... der aus kurzer Distanz ins Tor köpft.

    1. Lenglet passt in die Zentrumsspur auf Barrios, der nach vorne andribbelt ...

    2. ... und einen Schnittstellenpass auf Griezmann spielt, der nach kurzem Dribbling ...

    3. ... flach ins Tor abschließt.

Titelkandidat

Die Mannschaft von Diego Simeone hat aktuell einen Lauf: Vierzehn Siege in Folge haben für die Tabellenführung in La Liga, ein Pokalachtelfinale und eine gute Ausgangslage in der Champions League gesorgt. Jedoch waren die Ergebnisse gerade in den vergangenen Wochen oft knapp und Atlético erzielte erst spät (und nicht immer verdient) den Siegtreffer. Trotzdem sind Los Colchoneros in dieser Form Titelanwärter in allen Wettbewerben – denn Diego Simeone hat es erneut geschafft, die altbekannte Defensivstärke zurückzubringen und die Offensive mit frischem Wind zu beleben.

Bei Atlético brauchen wir nicht nur Spieler mit Talent. Sie müssen auch eine hohe Arbeitsmoral und Laufbereitschaft mitbringen.
Diego SimeoneTrainer von Atlético Madrid
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