Spielanalyse
SSC Neapel – der italienische Meister
Der SSC Neapel sichert sich den ersten Scudetto seit 33 Jahren.
Marius Fischer
Marius Fischer, Redakteur der DFB-Trainerzeitschrift „Fußballtraining“, analysiert Qualitätsmerkmale im internationalen Fußball. Nebenbei ist er als Spielanalyst bei Viborg FF in der dänischen Superliga tätig.
Bei der letzten Meisterschaft war Diego Maradona noch der Starspieler der Süditaliener. 33 Jahre später heißen die Leistungsträger des SSC Neapel Kim Min-jae, Khvicha Kvaratskhelia und Victor Osimhen. Was hat die Mannschaft so stark gemacht?
Ein erfolgreicher Umbruch
Auch wenn Neapel in den vergangenen Jahren immer schon zu den Topteams der Serie A gehörte, kam eine derartige Dominanz wie in dieser Saison dennoch überraschend: Mit Kalidou Koulibaly, Fabián Ruiz sowie den beiden langjährigen Identifikationsfiguren Lorenzo Insigne und Dries Mertens hatten gleich vier Schlüsselspieler den Verein im Sommer verlassen. Doch Trainer Luciano Spaletti, der die Mannschaft seit Juli 2021 betreut, hat den Umbruch genutzt, um die Verantwortung auf mehrere Schultern zu verteilen und weniger berechenbar zu sein. Das Ergebnis ist beeindruckend: Die beste Offensive und Defensive der Serie A sorgten für eine bereits vier Spieltage vor Saisonende feststehende Meisterschaft. Einzig in der Champions League gab es im Viertelfinale ein trotz Chancenüberlegenheit letztlich enttäuschendes Ausscheiden gegen Ligakonkurrent AC Mailand.
Ein flexibles 4-3-3
Spaletti stellt seine Mannschaft ausnahmslos in einer 4-3-3-Grundformation auf. Dennoch agiert Neapel vor allem im Ballbesitz sehr flexibel und variantenreich, sodass die eigentliche Struktur und Ordnung häufig aufgebrochen wird. So bauen sie situativ gerne in einer Dreierkette auf: Dabei schiebt ein Außenverteidiger weit nach vorne (oder rückt in die Zentrumsspur ein), während der andere zusammen mit den zwei Innenverteidigern im Dreieraufbau fungiert. Die zentralen Mittelfeldspieler und zwei Flügelspieler passen ihre Positionierung je nach eigenem Aufbau und gegnerischer Pressingstruktur an und versuchen, permanent Dreiecke und Diamanten untereinander und in Kombination mit den Verteidigern zu bilden. So kreiert Neapel immer wieder Überzahlsituationen in Ballnähe mit vielen Passoptionen zwischen den Ketten.
Rrhamani passt zu Di Lorenzo.
Napoli schafft Überzahl in Ballnähe und im Spiel über den Dritten gelangt der Ball in die Zentrumsspur zu Lobotka, ...
... der das Spiel in die linke Außenspur auf Olivera verlagert.
Lobotka passt zu Jesus. Mit dem Pass lässt sich Olivera in einen Dreieraufbau fallen.
Jesus passt in die linke Halbspur zu Olivera.
Anguissa und Kvaratskhelia bewegen sich ballnah und bilden mit Olivera ein Dreieck.
Tiefenläufe und die goldene Zone
Im letzten Drittel agiert der SSC Neapel widerum sehr flexibel und mit vielen Positionsrochaden. Vor allem die zentralen Mittelfeldspieler starten immer wieder Tiefenläufe hinter die Abwehrkette und "zerbrechen" dadurch die gegnerische Grundordnung. Beim Herausspielen von Chancen stehen die Assist Zone und die Golden Zone im Vordergrund: Hier schafft es Neapel, sich durch Kombinationen in der Außenspur oder schnelle Konter in gute Cutback-Positionen zu bringen und den Stürmern somit einfache Tore aus kurzer Distanz zu ermöglichen. Als weiteres effektives Angriffsmittel, vor allem gegen tiefstehende Gegner, hat sich die Halbfeldflanke erwiesen: Gerade Flügelspieler Kvaratskhelia ist durch seine hervorragende Technik in der Lage, mit wenig Raum aus dem Fußgelenk punktgenaue Flanken zu schlagen und konnte so einige Torvorlagen erzielen.
Kvaratskhelia dribbelt in die linke Halbspur ...
... und verlagert auf Politano.
Di Lorenzo startet einen Tiefenlauf hinter die Abwehr und wird von Politano angespielt.
Di Lorenzo passt quer in den Lauf von Osimhen, der aus kurzer Distanz einschießt.
Nach einem Ballgewinn in der rechten Außenspur passt Lobotka in den Lauf von Lozano.
Lozano dribbelt mit Tempo an ...
... und passt in den Lauf von Osimhen, der aus kurzer Distanz ins Tor trifft.
Ein sicherer Rückhalt
Die spektakuläre Offensive von Neapel stand zumeist im Fokus. Doch die Süditaliener stellen mit bisher 23 Gegentoren in 34 Spielen ebenso die beste Defensive der Liga. Einen großen Anteil daran hat der 26-jährige Torhüter Alex Meret. In der vergangenen Saison noch zweite Wahl hinter David Ospina machte der Italiener in dieser Spielzeit einen großen Entwicklungssprung und erwies sich vor allem in engen Spielen als sicherer Rückhalt. 73,90 Prozent aller Schüsse konnte er parieren. Der Wert der Expected Goals (zu erwartende Tore) aller Schüsse aufs Tor von Meret liegt um 0.80 Tore über den tatsächlich kassierten Gegentore – damit ist Meret einer vor nur sieben Torhütern in der Serie A, die in dieser Statistik einen positiven Wert aufweisen und ihrem Team somit Tore "verhindert" haben. Im Spielaufbau zeigt Meret ebenfalls große Stärken: Eine Passquote von 86 Prozent bei im Schnitt 21 Pässen pro Spiel sind Topwert in Italien.
Der gegnerische rechte Mittelfeldspieler (RM) spielt einen Querpass auf den Stürmer (ST). Meret antizipiert die Situation ...
... und kann den Abschuss aus kurzer Distanz parieren.
Der AC Mailand stellt die Passoptionen ins Zentrum zu. Den freie Raum in der rechten Außenspur bespielt Meret mit einem präzisen Flugball zu Di Lorenzo.
Fazit
Der SSC Neapel hat die Serie A dominiert und verdient die erste Meisterschaft seit 33 Jahren gefeiert – ausgerechnet im ersten Jahr nach dem Abgang von vielen namhaften Leistungsträgern. Trainer Spaletti ließ seine Mannschaft einen flexiblen und attraktiven Fußball spielen, der von den neuen Offensivstars Kvaratskhelia und Osimhen hervorragend angeführt wurde. Es wird interessant sein zu beobachten, ob Napoli die Mannschaft zusammenhalten kann oder ob erneut viele Leistungsträger den Verein im Sommer verlassen werden und Spaletti den nächsten kleinen Umbruch einleiten muss.
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