Spielanalyse
Dynamischeres Offensivspiel – England steht im Finale
Stark verbesserte Engländer schlagen die Niederlande mit 2:1.
Marius Fischer
Marius Fischer, Redakteur der DFB-Trainerzeitschrift „Fußballtraining“, analysiert Qualitätsmerkmale im internationalen Fußball. Nebenbei ist er als Leiter der Analyseabteilung bei Viborg FF in der dänischen Superliga tätig.
Trotz Halbfinaleinzug standen die Three Lions vor dem Spiel unter starker Kritik. Vor dem Turnier als Topfavorit gehandelt und mit vielen Weltklassespielern ausgestattet, waren die bisherigen Leistungen vor allem offensiv eher mau und die Mannschaft tat sich sehr schwer, Chancen aus dem Spiel heraus zu kreieren. Das gelang gegen die Niederlande deutlich besser und sorgte für den zweiten Finaleinzug in Folge bei einer Europameisterschaft. Nach einer ereignisreichen ersten Halbzeit verflachte das Spiel im zweiten Durchgang und es gab kaum noch Torchancen auf beiden Seiten – ehe Joker Ollie Watkins in der 90. Minute den späten Siegtreffer erzielte.
Dynamische erste Halbzeit
Vor allem das statische Offensivspiel war ein großer Kritikpunkt der Engländer. Die prominente Offensive um Bukayo Saka, Phil Foden, Jude Bellingham und Harry Kane konnte bisher nicht an die überragenden Leistungen aus der vergangenen Vereinssaison anknüpfen. Zu wenig Bewegung und Anspielstationen zwischen den Ketten und ein sehr risikoarmes Passspiel sorgten häufig für wenig Durchschlagskraft. Gegen die Niederlande war das in der ersten Halbzeit anders: Viel Bewegung und flexible Positionswechsel sorgten für Zuteilungsprobleme in der niederländischen Abwehrkette, die England vor allem durch schnelle Verlagerungen in die Außenspur ausnutzten. Selbst Stürmer Kane ließ sich oft fallen und agierte als zusätzliche Anspielstation im Zehnerraum. Besonders Foden profitierte von dieser verbesserten Dynamik und agierte deutlich häufiger in den gefährlichen Räumen in der Zentrums- und Halbspur.
Kane passt aus der Halbspur heraus zu Walker, der auf Foden weiterleitet.
Foden passt zu Mainoo und startet einen Tiefenlauf. Mainoo dribbelt an ...
... und spielt einen Schnittstellenpass auf Foden, der in den Strafraum dribbelt und zu einer guten Abschlusschance kommt.
Walker läuft tief und öffnet den Raum für Saka, der von Rice per Flugball angespielt wird.
Saka passt in die Halbspur zu Foden, ...
... der aufdreht und den Ball gegen den Pfosten schlenzt.
Englands Pressing
Auch im Pressing und Gegenpressing zeigten sich die Engländer verbessert. Sie liefen die Niederlande zu Beginn des Spiels häufig hoch an, um lange Bälle zu forcieren, da die englischen Innenverteidiger deutliche Lufthoheit gegenüber den offensiven Memphis Depay oder Xavi Simons besaßen. Pässe ins Zentrum wurden von Mainoo oder Bellingham aggressiv angelaufen, sodass sich die kreativen Spieler der Niederlande nicht aufdrehen konnten. Probleme machte den Engländern zuweilen, wenn sich Stürmer Depay weit zurück in die Halbspuren fallen ließ: Ihn konnten die Verteidiger und Torhüter Bart Verbruggen zwar einige Male zwischen den Ketten anspielen, doch Englands kompakte Verteidigung sorgte dafür, dass die Niederlande auch in diesen Momenten nur selten mit Tempo angreifen konnten.
Van Dijk passt zu De Vrij.
De Vrij passt zu Schouten, der von Mainoo angelaufen wird und zum Rückpass gezwungen wird.
Van Dijks Pass in die Außenspur wird von England sofort wieder unter Druck gesetzt.
Van Dijk passt zu ...
... Verbruggen, der einen linienbrechenden Pass auf Depay spielt.
Depay dreht auf und passt in die Außenspur.
Anpassungen im Spielaufbau
Die Niederlande verloren vor allem zu Beginn des Spiels zu schnell den Ball und hatten dementsprechend nur wenig Kontrolle. Ein Grund dafür war der Spielaufbau mit nur einem Sechser in Person von Jerdy Schouten. Sein Nebenmann Tijani Reijnders hielt sich zumeist in einer höheren Position zwischen Englands Ketten auf, war dort jedoch nur selten anspielbar – nur acht Ballkontakte in den ersten 20 Minuten zeigen diese Problematik deutlich auf. Durch die frühe Auswechslung von Depay, für den der zentrale Mittelfeldspieler Joey Veerman ins Spiel kam, ließen sich Reijnders oder eben Veerman tiefer fallen. Die Niederlande baute häufiger in einer 4-2-Struktur auf, was für mehr Ballbesitz und Dynamik sorgte.
Veerman passt zu De Vrij.
De Vrij passt in die Zentrumsspur zu Schouten, ...
... der aufdreht und einen linienbrechenden Pass zu Simons spielt.
De Vrij passt in die Außenspur zu Dumfries. Schouten bewegt sich aus dem Deckungsschatten ...
... und wird von Dumfries in den Lauf angespielt.
Strafraumbesetzung
Den strukturellen Vorteilen, die das Fallenlassen von Mittelstürmer Harry Kane in die Halbspuren brachte, stand eine mangelhafte Strafraumbesetzung gegenüber. Wenn Kane im Aufbauspiel beteiligt war und sogar selber für die Verlagerung in die Außenspur sorgte, war er häufig zu weit vom Strafraum entfernt, um als Abnehmer von Flanken oder tiefen Anspielen dienen zu können. Besonders in der zweiten Spielhälfte mit der Einwechslung von Luke Shaw, der im Gegensatz zu Kieran Trippier als Linksfuß häufiger zur Flanke ansetzte, wurde dies zum Problem. Trainer Gareth Southgate wechselte daher überraschenderweise Ollie Watkins für Kane ein – ein Tausch, der sich bezahlt machte: Watkins erzielte kurz vor Ende der Partie den 2:1-Siegtreffer – aus dem Strafraum heraus.
Foden passt in die linke Außenspur zu Shaw, ...
... dessen Flanke abgeblockt wird. Mittelstürmer Kane befindet sich dabei außerhalb des Strafraums.
Bellingham passt in den Lauf zu Shaw.
Shaws Halbfeldflanke findet keinen Abnehmer.
Verdienter Finaleinzug
Zum dritten Mal in dieser K.o.-Runde gerieten die Engländer in Rückstand – zum dritten Mal konnten sie das Spiel am Ende dennoch für sich entscheiden. Gegen die Niederlande sogar durch ein spätes Tor in der regulären Spielzeit. Viele Expert*innen fragten sich, ob und wann der Knoten der bisher pragmatisch und statisch aufgetretenen Three Lions endlich platzen würde – zumindest die erste Halbzeit war dahingehend ein deutlicher Fortschritt. Es wird interessant zu beobachten sein, ob Gareth Southgate gegen die sehr spielstarken Spanier im Finale wieder einen defensiveren, sichereren Ansatz wählt oder den Offensivspielern erneut "mehr Freiraum" lässt.
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