Spielanalyse
Euro 2024 – die Trends der Vorrunde
Auffälligkeiten der drei Vorrundenspieltage
Marius Fischer
Marius Fischer, Redakteur der DFB-Trainerzeitschrift „Fußballtraining“, analysiert Qualitätsmerkmale im internationalen Fußball. Nebenbei ist er als Leiter der Analyseabteilung bei Viborg FF in der dänischen Superliga tätig.
36 Spiele sind bei der Europameisterschaft absolviert – Zeit für ein Zwischenfazit: 81 Tore fielen bisher, im Schnitt 2,25 pro Spiel. Der Trend der vergangenen großen Turniere wurde bisher nicht bestätigt – bei der Euro 2021 waren es noch 2,78 Treffer pro Spiel. Zumal erfahrungsgemäß die Toranzahl in der K.o.-Runde eher abnimmt. Bei dieser Euro erzielten zwar in 20 von 36 Spielen beide Mannschaften einen Treffer, es fehlten jedoch die großen Torfestivals: In nur sechs Duellen fielen mehr als vier Tore.
Späte und "falsche" Tore
Zehn Tore sind nach der 90. Minute gefallen – bereits jetzt ein EM-Rekord. Das lässt sich teilweise mit den etwas längeren Nachspielzeiten erklären, doch sind diese nicht so exorbitant gestiegen wie bei der vergangenen Weltmeisterschaft. Es gibt also auch mögliche taktische Gründe für diese Entwicklung: Während Teams in der Vergangenheit häufig "in Panik gerieten", sobald die letzten Spielminuten anbrachen und vermehrt mit langen Bällen agierten, werden Angriffe jetzt zumeist noch bis tief in die Nachspielzeit kontrolliert ausgespielt. Gegen müde Gegner häufig die bessere Lösung. Doch nicht nur spät schlug es häufig ein – auch gingen viele Bälle ins "falsche" Tor: Bereits sieben Eigentore gab es im Turnier – damit wird ein Trend der vergangenen Euro fortgesetzt: Damals waren es am Ende elf Treffer ins eigene Gehäuse. Wie auch schon vor drei Jahren ist ein Grund die hohe Anzahl von scharfen Hereingaben aus der Assist Zone vors Tor.
Calafiori spielt einen Doppelpass mit Fagioli, ...
... dribbelt in der Zentrumsspur an ...
... und passt zu Zaccagni, ...
... der ins ballferne Eck schlenzt.
Asllani dribbelt in die linke Außenspur. Mitaj befindet sich in der Halbspur ...
... und startet einen Tiefenlauf hinter Kroatiens Abwehr, wo er von Asllani angespielt wird.
Mitaj passt zu Gjasula, der aus 16 Metern ins Tor trifft.
Williams dribbelt in der linken Halbspur zur Torauslinie ...
... und flankt scharf flach an den Strafraum, wo Calafiori den Ball ins eigene Tor befördert.
Renaissance der Distanzschüsse
Eine große Auffälligkeit ist die vergleichsweise hohe Anzahl an Toren von außerhalb des Strafraums. 15 Fernschüsse entsprechen einer Quote von 18 Prozent – nie war der Wert bei einer Europameisterschaft seit Beginn der Datenerfassung 1996 höher. Dies ist insofern überraschend, da der Fußball in den vergangenen Jahren immer "datengesteuerter" geworden ist. Durch den Einfluss von Werten wie Expected Goals sind Fernschüsse etwas in Verruf geraten, da die Wahrscheinlichkeit eines Treffers drastisch abnimmt, je weiter der Schütze vom Tor entfernt ist. Das hat zu deutlich weniger Versuchen und damit auch Toren aus der Distanz geführt. Dass dies bei der aktuellen Europameisterschaft anders ist, liegt auch an den häufig tiefstehenden Gegnern: Der durchschnittliche PPDA-Wert (erlaubte Pässe bis zu einer Defensivaktion) aller Teams liegt bei 13.88 und damit knapp 20 Prozent höher als in Europas Topligen. Viele Teams stellen den Strafraum komplett zu, sodass Distanzschüsse ein probates Mittel geworden sind.
Kristiansen passt zu Hjulmand, der kurz andribbelt ...
... und per Distanzschuss platziert ins Tor schießt.
Vargas passt zu Freuler, der den Ball zu Aebischer weiterleitet.
Aebischer dribbelt kurz leicht rechts und schlenzt den Ball ins ballferne Eck ins Tor.
Kreative Standards
Statistisch gesehen bietet die Euro bisher keine großen Ausreißer. Zwar sind bereits 15 Treffer nach ruhenden Bällen gefallen, viele jedoch erst in der zweiten Phase nach einem Abpraller – nur selten gab es einen direkten Kopfball nach einer Ecke oder einem Freistoß. Dennoch zeigt sich eine große Kreativität bei der Ausführung: So gut wie alle Teams verfügen mittlerweile über einen oder mehrere Analysten, die die Standardsituationen jedes Gegners genau unter die Lupe nehmen und ihre eigene Mannschaft dementsprechend vorbereiten. Daher entstanden viele der bisherigen Standardtore nach kreativen Lösungen, die für einen Überraschungsmoment sorgten. Einige Teams wie Deutschland oder Österreich zeigten sogar unterschiedliche, kreative Abläufe beim Anstoß.
Pellegrini spielt einen Doppelpass mit Di Marco ...
... und flankt an den ballfernen Pfosten, ...
... wo Bastoni freigeblockt wird und aus kurzer Distanz ins Tor köpft.
Hancko steht beim Einwurf. Haraslin läuft ihm entgegen ...
... und bekommt den Ball von Hancko übergeben.
Nach der Übergabe startet Hancko schnell einen Tiefenlauf, wird von Haraslin angeworfen ...
... und flankt volley an den ballfernen Pfosten, wo Schranz ins Tor köpft.
Der tiefstehende Spielmacher
Er war zwar nie ganz weg, aber in der rasanten Entwicklung zu immer dynamischerem und schnellerem Fußball haben die klassischen tiefstehenden Spielmacher in den vergangenen Jahren etwas an Bedeutung verloren. Durch die enorme spielerische Weiterentwicklung der Innenverteidiger war auch ein Abkippen des "Sechsers" im Spielaufbau in vielen Fällen nicht mehr zwingend notwendig. In diesem Turnier gibt es jedoch einige Spieler zu beobachten, die genau diese Rolle wieder vermehrt ausfüllen. Vor allem Toni Kroos, Granit Xhaka und Jorginho lassen sich gerne in die Abwehrkette fallen, um sich dort den Ball abzuholen und das Spiel von hinten aufzubauen. Dadurch können die Verteidiger breiter und höher stehen – es ergeben sich neue Durchbruchsmöglichkeiten in den Halbspuren, um die erste gegnerische Pressinglinie zu überspielen.
Rüdiger passt zu Tah. Kroos setzt sich nach hinten ab und wird von Tah angespielt.
Kroos spielt einen linienbrechenden Pass zu Gündoğan.
Xhaka lässt sich in die Abwehrkette fallen, wird von Akanji angespielt und dribbelt in die Zentrumsspur.
Xhaka passt zu Akanji, der in den Lauf des breitstehenden Rodriguez passt.
Jorginho wird im Spiel über den Dritten in einer tiefen Position angespielt, dribbelt nach vorne an ...
... und passt in den Lauf von Darmian.
Ausblick
Es wird interessant sein zu beobachten, wie sich die bisher identifizierten Trends in den K.o.-Spielen entwickeln, wenn die Duelle noch ausgeglichener werden und die Teams mehr unter Druck stehen. Es könnte sein, dass weniger sehr frühe und sehr späte Tore fallen, da sich die Anfangsphase in der Ko-Runde statistisch gesehen oft etwas abwartender gestaltet und Mannschaften am Ende des Spiels bei Gleichstand nicht mehr alles riskieren müssen. Werden Standardsituation in den engen Spielen eine noch größere Rolle einnehmen und das Turnier entscheiden? Und wird es bei der Anzahl an Distanzschusstoren eine Regression zur Mitte geben?
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