Spielanalyse

Relationismus – mehr als nur ein Trend?

Wie Fernando Diniz den Fußball mit Fluminense neu definiert.

Fluminense bejubelt den Gewinn der Copa Liberatores.
  1. Marius Fischer

    Marius Fischer, Redakteur der DFB-Trainerzeitschrift „Fußballtraining“, analysiert Qualitätsmerkmale im internationalen Fußball. Nebenbei ist er als Spielanalyst bei Viborg FF in der dänischen Superliga tätig.

In Brasilien hat sich zuletzt eine neue taktische Philosophie aufgetan, die einen Gegensatz zu dem in Europa dominierenden Positionsspiel darstellt und den Fluminense FC zum ersten Gewinn der Copa Liberatores in der Vereinsgeschichte führte.

Innovativer Trainer

Der Kopf hinter diesem Erfolg ist Fernando Diniz. Der 49-Jährige ist seit 2009 im Trainergeschäft aktiv – bisher coachte er ausschließlich in Brasilien. Fluminense ist seine elfte und erfolgreichste Station: 1,83 Punkte im Schnitt und der Gewinn der südamerikanischen Champions League beförderten ihn erstmalig ins Rampenlicht und sorgten sogar dafür, dass er im vergangenen Sommer in einer Doppelfunktion auch die brasilianische Nationalmannschaft übernehmen durfte. Dort konnte er jedoch nicht an die Erfolge aus dem Vereinsfußball anknüpfen und wurde bereits nach sechs Spielen wieder entlassen.

Fernando Diniz beim Coaching an der Seitenlinie für Fluminense.
Fernando Diniz wollte sich nie von anderen Trainern inspirieren lassen, sondern lieber selber einen Spielstil kreieren, in dem sich die Spieler wohlfühlen.
Ball- statt Raumfokus

Doch nicht primär die Ergebnisse und Erfolge brachten Diniz ins Rampenlicht: Es war die Art und Weise, wie er seine Mannschaft spielen ließ, die für Aufsehen sorgte. Seine Spielidee unterscheidet sich vor allem in einem Aspekt deutlich vom (europäischen) Positionsspiel, das Pep Guardiola seiner Zeit mit dem FC Barcelona zum Nonplusultra machte: Während es bei diesem vor allem um das abgestimmte Besetzen von Räumen und Zonen in einer zumeist klaren Struktur mit festen Abläufen geht, steht beim Relationismus der Ball und die Kreativität im Fokus. Bei Fluminense versammeln sich zeitweise alle zehn Feldspieler in unmittelbarer Ballnähe. Sie sollen enge "Beziehungen" zueinander aufbauen, um sich mit kurzen Doppelpässen und schnellem Direktspiel aus engen Räumen zu befreien. Feste positionsspezifische Vorgaben gibt es kaum – die Spieler sollen sich frei bewegen und individuelle Lösungen finden.

    1. Xavier passt zu Nino, der in Richtung Fünfmeterraum dribbelt ...

    2. ... und zu Fábio passt, der von zwei Gegenspielern angelaufen wird.

    3. Fábio passt unter hohem Gegnerdruck zu Melo, der nach vorne andribbeln kann.

    1. Marcelo wirft zu Melo.

    2. Melo passt unter hohem Druck zu Nino.

    3. Nino passt zu Ganso, der im Spiel über den Dritten in den Lauf von Marcelo passt.

    4. Marcelo passt ins Zentrum zu Arias, der Raum zum Aufdrehen hat.

Fehlende Durchschlagskraft

Durch die oft große Überzahl in Ballnähe im Spielaufbau schafft es Fluminense immer wieder, selbst ein aggressives Angriffspressing zu überspielen. Da sie für diese erste Phase jedoch so viele Spieler "opfern", fehlt nach dem Durchbruch teilweise die Durchschlagskraft. Die Überzahl im Spielaufbau sorgt für eine Unterzahl im letzten Drittel und durch die engen Positionierungen fehlt oft eine Verlagerungsoption in der Außenspur, die für eine Tempoverschärfung sorgt. Gegen individuell überlegene Gegner muss Fluminense ihren Angriff häufig wieder abbrechen und die Dynamik rausnehmen, obwohl das gegnerische Pressing eigentlich bereits überspielt wurde.

/
Mannorientiertes Chaos

Die Prinzipien des Relationismus greifen auch im Spiel gegen den Ball. Fluminense agiert hier zumeist im mannorientierten Angriffspressing, das eine hohe Intensität sowie ein großes Laufpensum verlangen. Wie im Ballbesitz sorgt es auch im Pressing für Situationen, in denen Fluminense eine Seite stark überlädt und den Ballbesitzenden doppelt oder sogar dreifach angreift. Diese Art des Verteidigens bringt ein hohes Risiko mit sich und sorgt häufig für Chaos und viele gegnerische Verlagerungsoptionen und 1-gegen-1-Duelle, sobald die erste Pressinglinie überspielt wurde.

    1. Der gegnerische Torwart passt zum RV. Dieser wird sofort von Cano angelaufen.

    2. Der RV passt zum ZM, ...

    3. ... der von zwei Fluminense Spielern unter Druck gesetzt wird und zum OM passt.

    4. Der OM spielt eine Verlagerung auf den freien LF.

    1. Der gegnerische Torwart passt zum LV, der von Cano angelaufen wird.

    2. Der LV passt zum IV. Cano setzt sein Pressing fort. Martinelli deckt das Zentrum ab.

    3. Der IV spielt einen Diagonalball in die rechte Außenspur.

    4. Der Passempfänger wird sofort von Keno unter Druck gesetzt.

Mehr als nur eine Fußballtaktik

Durch die Erfolge von Fluminense und der Ernennung von Diniz zum Nationaltrainer stieg auch die mediale Präsenz des Relationismus. Viele Taktikblogs und Newsseiten befassten sich mit dieser alternativen Art Fußball zu spielen. Schnell entwickelte sich eine Grundsatzdebatte zwischen Befürwortern und Kritikern der Philosophie. Während die einen immer wieder betonen, dass der Relationismus den "echten Fußball" – mit viel Kreativität, individuellen Freigeistern und Unterhaltung – zurückbringt, zweifelt die Gegenseite seine Tauglichkeit in den europäischen Elitewettbewerben an. Es wird interessant sein zu sehen, ob fortan auch immer mehr europäische Spitzenteams die Grundlagen der südamerikanischen Spielidee in ihren Spielstil integrieren oder ob der Relationismus nur ein kurzzeitiger "Trend" war. Das prominenteste Beispiel in Europa liefert aktuell die ungarische Nationalmannschaft, die mit vielen Elementen des Relationismus eine erfolgreiche EM-Qualifikation gespielt hat.

Wir sind "anti-positionell". Spieler dürfen frei rotieren, der Platz ist offener als beim Positionsspiel. In manchen Situationen bewegen sich alle Spieler in den selben engen Raum und wechseln dort mehrmals ihre Positionen.
Fernando DinizTrainer von Fluminense
Weiterführende Links

Weitere Spielanalysen