Spielanalyse
Intensität und Mut – Österreich besiegt die Niederlande
Das bisher wohl attraktivste Spiel der Euro im Check
Marius Fischer
Marius Fischer, Redakteur der DFB-Trainerzeitschrift „Fußballtraining“, analysiert Qualitätsmerkmale im internationalen Fußball. Nebenbei ist er als Leiter der Analyseabteilung bei Viborg FF in der dänischen Superliga tätig.
Die österreichische Nationalmannschaft hat die stark besetzte Gruppe D überraschend als Tabellenerster abgeschlossen. Am letzten Spieltag besiegten sie die Niederlande mit 3:2 und zogen damit an Topfavorit Frankreich vorbei. Dabei blieb die Mannschaft von Trainer Ralf Rangnick ihren Prinzipien treu und hielt an ihrem intensiven und mutigen Matchplan fest.
Mehr Dynamik in der Außenspur
Im Vergleich zu den ersten beiden Gruppenspielen schickte Rangnick eine veränderte linke Seite ins Spiel. Statt Phillipp Mwene und Marcel Sabitzer spielten Alexander Prass und Patrick Wimmer in der linken Außenspur, während Sabitzer ins Zentrum wechselte. Vor allem Linksfuß Prass sorgte mit seiner direkteren Spielweise für mehr Dynamik im Umschaltspiel – das 1:0 bereitete er durch seinen Tiefenlauf im Konter entscheidend vor. Auch Bondscoach Ronald Koeman setzte auf eine taktische Änderung: Der Zehner Xavi Simons blieb überraschend draußen und wurde durch den defensiveren Joey Vermaan ersetzt. Dadurch ergab sich im Ballbesitz (bis zu Vermaans verletzungsbedingter Auswechslung in der 35. Minute) eher eine 4-3-3-Struktur statt eines 4-2-3-1 – Stürmer Memphis Depay ließ sich dafür immer wieder in die Halbspur fallen.
Aggressives Angriffspressing
Österreich hat bei der Euro bisher mit 8.08 den zweitniedrigsten PPDA-Wert (Pässe pro Defensivaktion) hinter der deutschen Nationalmannschaft – auch gegen die Niederlande ließ Rangnick seine Spieler wieder hoch anlaufen, um lange Befreiungsschläge oder hohe Ballgewinne zu forcieren. Da auch Koeman häufig im Angriffspressing agieren ließ, entstand ein zum Teil sehr chaotisches Spiel mit vielen Mittelfeldduellen um zweite Bälle und Umschaltaktionen. Hierbei zeigten sich die Österreicher griffiger, sodass sie in den meisten dieser Situationen die Oberhand behielten und den Niederländern nur wenige kontrollierte und gefährliche Angriffe erlaubten. Strukturell schob Marcel Sabitzer aus seiner Zehnerposition in die vorderste Linie neben Marko Arnautovic, sodass Österreich zumeist aus einem 4-4-2 heraus presste, wobei die beiden Sechser ein sehr gutes Timing beim vertikalen und horizontalen Verschieben zeigten.
Van Dijk passt zu Aké, der unter dem Druck von Schmid klatschen lässt.
Van Djik spielt einen Flugball zu Geertruida, der sofort von Wimmer angelaufen wird.
Durch den hohen Gegnerdruck zwingt Österreich den Gegner zum riskanten Direktspiel in der Zentrumsspur, ...
... was letztlich zu einer Balleroberung von Seiwald führt.
Der Torhüter passt zu Aké, der von Schmid angelaufen wird.
Aké passt unter Druck zu Gakpo, der von Schmid und Seiwald gepresst wird ...
... und dadurch zu einem Ballverlust gezwungen wird.
Offener Halbraum
Gegen den Ball agierten die Niederländer von der Struktur her ähnlich: Auch Tijjani Reijnders schob als Pendant zu Marcel Sabitzer im Pressing in die vorderste Linie, sodass sich ebenfalls eine mannorientierte 4-4-2-Grundordnung ergab. In den Momenten, in denen einer der beiden Achter, Jerdy Shouten oder Joey Vermeer, zusätzlich nach vorne schob, gab die Niederlande jedoch viel Raum in der Halbspur frei, den die Österreicher beispielsweise vor dem 1:0 Treffer ausnutzten. Diesen Raum gab es zwar auch im Pressing von Österreich – dort wurde er jedoch im Notfall von einem herausrückenden Innenverteidiger zugelaufen.
Wöber passt zu Pentz. Die Niederlande verteidigt im 4-4-2, wobei Schouten seine Position nach vorne verlässt.
Den dadurch entstandenen Raum in der Zentrumsspur nutzt Pentz für einen linienbrechenden Pass zu Sabitzer, ...
... der sich in einer vielversprechenden Angriffssituation befindet.
Lienhart dribbelt an. Die zwei Achter der Niederlande stehen beide hoch.
Dadurch ensteht ein großer Raum in der Zentrumsspur, den Lienhart für einen Pass zu Sabitzer nutzt.
Sabitzer passt zu Prass, ...
... dessen Flanke von Malen ins eigene Tor abgefälscht wird.
Vom Ballgewinn zum Ballverlust
Eine große Stärke der Österreicher ist das offensive Konterspiel. Nach Balleroberung schalten sie blitzschnell um und versuchen, mit möglichst vielen Spielern das gegnerische Tor zu attackieren. Da im Angriffspressing häufig viele Österreicher auf engem Raum agieren, öffnen sich nach Ballgewinn sofort viele Passoptionen vor dem Ball. Diese mutige Spielweise wurde ihnen beim Gegentor jedoch einmal zum Verhängnis: Nachdem sie den Ball zunächst in der rechten Außenspur gewinnen konnten, wurde er anschließend in der Zentrumsspur sofort wieder verloren. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich sechs Spieler vor dem Ball und auch Rechtsverteidiger Stefan Posch rückte gerade auf. Im darauffolgenden Konter befand sich die Niederlande in einer 4:3-Überzahl, die sie zum zwischenzeitlichen Ausgleichstreffer nutzen konnten.
Österreich verliert in der Zentrumsspur den Ball. Fünf Spieler befinden sich vor dem Ball. Rechtsverteidiger Posch wollte gerade aufrücken.
Simons dribbelt auf die Abwehrkette zu ...
... und passt zu Gakpo, ...
... der den Ball ins ballferne Eck schlenzt.
Mehr als ein Geheimfavorit?
Bereits vor dem Turnier wurde den Österreichern dank einer starken Vorbereitung gute Chancen auf ein erfolgreiches Turnier attestiert. Diese hohen Erwartungen konnten sie trotz der stark besetzten Gruppe D bisher erfüllen – vor allem dank einer klaren Spielidee, die die Mannschaft bisher konsequent und gegnerunabhängig "durchgezogen" hat. In dieser Verfassung sind sie für jede Mannschaft schwer zu bespielen und könnten weiter für Überraschungen sorgen.
Die Niederlande ist trotz der Niederlage als einer der besten Gruppendritten zwar ebenfalls fürs Achtelfinale qualifiziert, blieb spielerisch bisher jedoch hinter den Erwartungen des stark besetzten Kaders zurück und wird sich im weiteren Turnierverlauf steigern müssen.
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