Spielanalyse

Belgien – der unscheinbare Mitfavorit

Für Belgiens "Goldene Generation" bietet sich bei diesem Turnier wohl die letzte Gelegenheit, Europameister zu werden.

Belgien bejubelt den 1:0-Führungstreffer im Achtelfinale gegen Portugal. ©2021 Getty Images
  1. Christopher Toetz

    Christopher Toetz, Redakteur der DFB-Trainerzeitschrift „Fußballtraining“, analysiert Qualitätsmerkmale im internationalen Fußball.

Mit einem Altersdurchschnitt von 29 Jahren sowie insgesamt 116 EM-Einsätzen, die sich auf die 26 Spieler verteilen, verfügt Belgien über den erfahrensten Kader des Turniers. Für gestandene Spieler wie Vertonghen, Vermaelen, Alderweireld oder Witsel, die über Jahre den Kern der ersten Elf bildeten, ist es womöglich auch die letzte Chance auf einen großen Titel. Die Erwartungen sind hoch. Kann sich die gereifte "Goldene Generation" den großen Traum erfüllen?

Kontrolliertes Positionsspiel

Mit Beginn seiner Amtszeit hat Cheftrainer Roberto Martínez umgehend ein 3-4-2-1-System installiert, wodurch er das Talent des vorhandenen Spielerpools bestmöglich nutzen kann und die Star-Spieler um De Bruyne, Eden Hazard oder Lukaku optimal eingebunden sind. Dabei ist die offensive Spielidee klar: In vielen Phasen bauen die "Red Devils" kontrolliert und mit Flachpässen aus der Abwehr heraus auf. Die spielstarke Dreierkette in Verbindung mit Torhüter Courtois nutzt die stetige Überzahl in der ersten Aufbaulinie, um sich den Gegner "zurechtzulegen" und mithilfe von linienüberspielenden Pässen zielgerichtete Kombinationen durch die Zentrums- und Halbspuren einzuleiten. Erfolgt ein Zuspiel zwischen die gegnerischen Linien, bestenfalls auf einen "Zehner" wie De Bruyne oder Eden Hazard, erhöht Belgien das Tempo und greift mit Dribblings, Doppelpässen, Wandspielen oder einer Spielverlagerung den Raum im Rücken des Gegners an. Doch das Team von Trainer Martínez nutzt auch hohe Pässe ins vordere Drittel, die auf den Zielspieler Lukaku abzielen. Wenn dieser den Ball "festmachen" und den Mitspielern Zeit zum Nachrücken geben kann, suchen die Belgier mit Hilfe von 1-gegen-1-Situationen, kurzen Kombinationen oder Verlagerungen einen schnellen Angriffsabschluss.

    1. Nach einem Rückpass wird Torhüter Courtois umgehend vom Mittelstürmer (MS) unter Druck gesetzt. Courtois bleibt jedoch ruhig, lässt den anlaufenden MS mit einer Finte ins "Leere" laufen und dribbelt nach vorne.

    2. Anschließend passt Courtois zu Tielemans, der bereits mit dem Zuspiel von zwei Gegenspielern unter Druck gesetzt wird. Tielemans lässt auf Vertonghen klatschen, der das Spiel mit einem Dribbling und einem langen Pass in die Tiefe fortsetzt.

    3. Dort ist Lukaku im passenden Moment in den Raum im Rücken der Abwehr eingelaufen, wo er nun den Ball gegen den Innenverteidiger (IV) behauptet. Dadurch erhalten seine Mitspieler die Möglichkeit nachzurücken. Lukaku passt zu De Bruyne, der umgehend vom Außenverteidiger (AV) angelaufen wird.

    4. De Bruyne versucht, mit dem ersten Kontakt zum in der Breite stehenden Meunier zu spielen. Der Pass wird jedoch geblockt und prallt nach vorne. Meunier reagiert gedankenschnell, sammelt den Ball auf ...

    5. ... und verlagert das Spiel auf die linke Seite, wo Thorgan Hazard frei steht. Der nimmt zielstrebig in Richtung Strafraum an und mit ...

    6. ... und schließt mit einem sehenswerten Fernschuss zum 1:0-Führungstreffer ab.

Flügelspieler als Breitengeber

Im 3-4-2-1 setzen die Belgier auf zwei hoch positionierte Flügelverteidiger, die bei eigenem Ballbesitz für die nötige Breite im Angriffsspiel sorgen. Sie ziehen den gegnerischen Defensivverbund auseinander und schaffen so Räume für die zentralen Spieler, die in den Zentrums- und Halbspuren die Angriffe einleiten und beschleunigen sollen. Dabei setzen die Belgier auf unterschiedliche Spielerprofile. Auf der linken Seite spielt meist ein offensiver Flügelspieler – gegenwärtig Thorgan Hazard -, der seine Qualitäten im Kombinationsspiel sowie im 1 gegen 1 hat. Auf der rechten Seite agiert ein gelernter Außenverteidiger, der sich mit seinem "klassischen" Spielstil eher durch eine gewisse Durchschlagskraft auszeichnet, die vor allem in der Physis und dem passenden Timing der Tiefenläufe liegt. Auf dieser Position hat sich Meunier etabliert, der nach Spielverlagerungen, Schnittstellenpässen aus dem Zentrum oder Hereingaben immer wieder für Gefahr sorgt.

    1. Carrasco passt zu Tielemans und läuft anschließend für einen möglichen Doppelpass in die Tiefe. Tielemans passt jedoch zu Thorgan Hazard in die Außenspur. Gleichzeitig bietet sich Meunier für einen Seitenwechsel an, wobei er außerhalb der Sichtfelder der Verteidiger agiert.

    2. Thorgan Hazard dribbelt entgegen der Spielrichtung nach innen, blickt in die Mitte und erkennt sowohl den freistehenden Meunier als auch den einlaufenden Mertens. Daraufhin spielt er eine scharfe Hereingabe vor das Tor, ...

    3. ... die jedoch unberührt zum Torwart "durchrutscht". Dieser kann den Ball nur nach vorne abprallen lassen, wo Meunier freistehend verwerten kann.

Statistiken

Trotz der klaren Idee, wie die Mannschaft Torchancen herausspielen möchte, verzeichnet Belgien lediglich 9,5 Torschüsse pro Spiel und befindet sich damit im schwächsten Drittel des gesamten Turniers. Dafür gehen immerhin 4,3 von diesen Schüssen tatsächlich aufs Tor, was im Vergleich ein hoher Anteil ist. Auch bei Betrachtung der „expected goals" (übersetzt: zu erwartende Tore) zeigt sich ein beunruhigendes Bild. Hier zählt Belgien in der Gesamtstatistik sowohl bei den Toren als auch bei den Gegentoren zu den negativen Ausreißern. So erzielte das Team bislang 8 Tore bei zu erwartenden 4,34 Toren. Zum Vergleich: Die Dänen verzeichnen 10,15 xG und 9 tatsächlichen Toren. Bei den Gegentoren verbuchen die "Red Devils" 1 Gegentor bei 4,88 erwartbaren Gegentoren. Abweichungen, die sich in der Regel normalisieren. Hier könnte den Belgiern jedoch das kurze Turnierformat in die Karten spielen.

Variabilität im Pressing

Im geordnetem Spiel gegen den Ball praktiziert Belgien meist zwei verschiedene Pressingarten, die sich in der Höhe und Intensität unterscheiden. In der tieferen Variante, die sich eher im Mittelfelddrittel ansiedelt, nutzen sie ein 5-2-3, mit dem die Zentrums- und Halbspuren zugestellt werden, sodass der Gegner in die Außenspuren gelenkt wird. Dabei achten die Belgier darauf, dass sie das Spiel stets vor sich haben, wodurch sie sich oftmals stark zusammenziehen und vergleichsweise schnell Raum für die Zielverteidigung aufgeben. Dagegen ist das Pressing im Angriffsdrittel von einer klaren Mannorientierung und höherer Intensität geprägt. Eine hohe Lauf- und Sprintbereitschaft stellt die Gegner vor Schwierigkeiten; immer mit dem Ziel, den Ball zu erobern. Dafür werden die Manndeckungen vor allem auf der Ballseite forciert. Dies ermöglicht, den Druck auf den Ballbesitzer hochzuhalten. Und wenn der Gegner doch auf lange Pässe zurückgreift, haben sie in der letzten Abwehrreihe kopfballstarke Verteidiger.

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Konter als Nadelstiche

Erzielen die Belgier einen Ballgewinn mit einer vorwärtsgerichteten Dynamik sowie bespielbaren Räume, spielen sie die Umschaltaktion schnell und konsequent aus. Dabei profitieren sie insbesondere von den dribbelstarken "Zehnern", meist Eden Hazard und De Bruyne, sowie dem durchsetzungsstarken Lukaku, mit der sie die Desorganisation des Gegners schnell und zielstrebig ausnutzen können. Dadurch erspielen sie sich immer wieder Torchancen, die sie jedoch noch zu häufig ungenutzt lassen.

    1. Tielemans erobert den Ball gegen den Außenverteidiger (AV) und passt zu Meunier, der direkt zu De Bruyne ins Zentrum spielt.

    2. De Bruyne passt mit dem ersten Kontakt zu Lukaku in die Außenspur. Der gegnerische Innenverteidiger (IV; nicht im Bild) antizipiert den Pass frühzeitig, kann diesen jedoch nicht abfangen. Lukaku nimmt nach vorne an und mit und dribbelt im hohen Tempo in Richtung Tor.

    3. Mit seinem Dribbling in den Strafraum bindet Lukaku zwei IV, wodurch auf der ballfernen Seite eine 3-gegen-1-Überzahl entsteht.

    4. Anschließend passt Lukaku durch die beiden IV zu De Bruyne in den Rückraum, worauf die IV sowie der Außenverteidiger (AV) hektisch reagieren.

    5. De Bruyne nutzt seinen Dynamikvorteil und lässt seine Gegenspieler mit einer Schussfinte und einem sauberen ersten Kontakt aussteigen.

    6. Anschließend behält De Bruyne die Übersicht und passt mit seinem zweiten Kontakt quer zum ballfernen Pfosten, wo Thorgan Hazard als einer von zwei freistehenden Mitspielern verwertet.

Ausblick

Belgien überzeugt unter Trainer Martínez mit einer klaren Spielidee, die im Offensivspiel von abgestimmten Abläufen, hohen Flügelverteidigern und individueller Qualität geprägt ist, wohingegen in der Defensivphase das variable Pressing eine elementare Rolle einnimmt. Ob es letztlich tatsächlich für den großen Wurf der "Goldenen Generation" reicht, ist jedoch auch aufgrund der Statistiken fraglich.

[Datenstand: 29.06.2020]

Nichts bereitet dich besser vor als die Erfahrung vorheriger Turniere. Die letzte WM auf Platz drei zu beenden [...], das macht dich natürlich zu einem anderen Team. Und das sind wir eben jetzt. Das ist die goldene Generation.
Roberto Martínez, Nationaltrainer Belgien