Spielanalyse

Vorschau auf die Euro 2024

Was hat sich seit der letzten Europameisterschaft verändert und welche neuen Trends könnte das Turnier bringen?

  1. Marius Fischer

    Marius Fischer, Redakteur der DFB-Trainerzeitschrift „Fußballtraining“, analysiert Qualitätsmerkmale im internationalen Fußball. Nebenbei ist er als Leiter der Analyseabteilung bei Viborg FF in der dänischen Superliga tätig.

Die letzte Europameisterschaft liegt zwar erst drei statt normalerweise vier Jahre zurück, dennoch ist es bei der rasanten Entwicklung im Weltfußball ein langer Zeitraum. Wir schauen auf aktuelle Trends, die beim anstehenden Turnier in Deutschland zum Vorschein kommen könnten und ziehen einen Vergleich zu den taktischen Auffälligkeiten der Euro 2021.

Vereinsfußball ungleich internationaler Fußball?

In großen internationalen Turnieren messen sich die besten Spieler der jeweiligen Verbände. Viele der taktischen Trends aus den Topligen und der Champions League finden sich daher früher oder später bei Welt- und Europameisterschaften wieder. Doch es gibt auch taktische Unterschiede, die vor allem mit der geringen Vorbereitungszeit und den teilweise großen Qualitätsdifferenzen innerhalb der Mannschaften begründet sind. Welche Trends der abgelaufenen Vereinssaison schaffen es in die Euro 2024 und was hat sich seit der letzten Europameisterschaft verändert?

Rückkehr zur Viererkette

Bei der vergangenen EM spielten 15 der 24 Mannschaften temporär oder permanent mit einer Dreierkette – darunter auch Finalist England. Dieser Trend geht nun wieder eher in Richtung Viererkette: Von den acht Viertelfinalisten in der diesjährigen Champions League startete nur Atlético Madrid mit einer Dreierkette und auch bei der Euro 2024 könnte die Viererkette (wieder) die dominierende Systemwahl sein. In den letzten zehn Spielen der teilnehmenden Nationen agierten nur vier mit einer Dreierkette – im Kontrast zu dreizehn Viererketten-Systemen. Sieben Teams wechselten flexibel, wobei auch hier die Viererkette etwas häufiger genutzt wurde. Fluide Wechsel und Rotationen während den verschiedenen Spielphasen, die im Vereinsfußball immer öfter zu beobachten sind, werden wir bei der Euro wahrscheinlich aber eher seltener sehen.

Hybrid-Pressing

Bei der vergangene Euro war aufällig, dass viele Teams im tiefen Block verteidigten und nur wenig Risiko im Pressing gegangen wurde. Nur eine Mannschaft lag damals bei einem PPDA-Schnitt (Pässe pro Defensivaktion) von unter zehn – der Turnierschnitt aller Teams lag bei 14,78. Das sind 15 Prozent mehr als der diesjährige Schnitt in der Champions League und 12 Prozent mehr als bei der Qualifikation zur Euro 2024. Werden wir also ein aggressiveres Pressing sehen?
Der Schlüssel liegt in der Flexibilität und Anpassungsfähigkeit: Die Topteams im europäischen Vereinsfußball starten zumeist im mannorientierten Angriffspressing, sind aber in der Lage, jederzeit ins raumorientierte Mittelfeld- oder sogar Abwehrpressing zu fallen, sofern es die Situation erfordert (und umgekehrt!). Dieses sogenannte "Hybrid-Pressing" wird auch bei der Euro ein wichtiger Erfolgsfaktor werden können.

    1. England verteidigt im raumorientierten, eher passiven Mittelfeldpressing. Der gegnerische ZM spielt einen Rückpass.

    2. Die englischen Spieler rücken mit dem Rückpass vom IV weiter auf ...

    3. ... und pressen nun im mannorientieren Angriffspressing.

Unterschiedliche Spielphilosophien

Im Vereinsfußball haben Trainer zumeist Monate oder sogar Jahre Zeit, ihre Spielphilosophie zu implementieren und den Kader optimal zusammenzustellen. In den Nationalmannschaften fehlt dafür die Zeit. In den großen Turnieren verfolgten Trainer bisher meist einen pragmatischen Ansatz, der auf einfachen Prinzipien beruht und keine lange Eingewöhnungszeit erfordert. Den Unterschied machte häufig die individuelle Qualität der Spieler – eine klare, prägnante "Handschrift" wie bei Teams von Pep Guardiola oder Roberto De Zerbi war selten zu sehen. Das könnte sich bei der Euro 2024 ändern: Viele Teams haben einen speziellen – trainierdominierten – Spielstil, der sie von dem der anderen Teams abhebt.
Österreich mit Ralf Rangnick setzt beispielsweise auf dasselbe aggressive (Gegen-)Pressing, mit dem der deutsche Fußballlehrer bereits RB Leipzig und Salzburg zum Erfolg führte. Im Kontrast dazu greifen die von Marco Rossi trainierten Ungarn Elemente des Relationismus auf, indem sie die ballnahe Seite mit vielen Spielern auf engstem Raum überladen und sich durch schnelles, kurzes Passspiel nach vorne kombinieren.

    1. Der gegnerische IV passt zum ZM. Sabitzer antizipiert den Pass und setzt den Passempfänger sofort unter Druck.

    2. Sabitzer spitzelt den Ball zu Gregoritsch, ...

    3. ... der ins ballnahe Eck trifft.

    1. Ungarn überlädt die linke Außenspur mit sieben Spielern.

    2. Der ZM spielt einen Doppelpass mit dem LV ...

    3. ... und dribbelt in den freien Raum in die Zentrumsspur.

Erneute Torflut?

Obwohl die Mannschaften oft einen eher auf Sicherheit bedachten Ansatz wählten, gab es bei der vergangenen Europameisterschaft mit 142 einen neuen Torrekord. Die erhöhte Spielanzahl war zwar ein Grund, doch auch der Schnitt von 2,78 Toren pro Spiel war der höchste seit 1976. Die Chancen stehen also gut, dass dieser Rekord in diesem Jahr direkt wieder gebrochen wird. In der abgelaufenen Bundesligasaison fielen so viele Treffer wie seit 32 Jahren nicht mehr und in der englischen Premier League gab es sogar einen neuen Torrekord. Die individuelle Qualität der Spieler wird stetig höher und Mannschaften finden immer mehr Wege, um Tore zu erzielen.

142 Tore fielen bei der EM 2020 – 34 mehr als 2016 bei identischer Anzahl an Spielen.
Der ballnahe Pfosten

Einer dieser Wege sind Standardsituationen. Sie sind mittlerweile ein fester Bestandteil des modernen Fußballs und machen immer häufiger den Unterschied in engen Spielen aus. Fast ein Drittel aller Tore wurde bei der vergangenen Europameisterschaft nach ruhenden Bällen erzielt. Immer häufiger sind die besten Teams in der Tabelle auch unter den besten Teams bei Standardsituationen – vor allem bei Eckbällen. Eine Variante, die wir bei der kommenden Euro häufig sehen könnten, sind scharf getretene Ecken auf den kurzen Pfosten. Diese sind so gefährlich, weil sie mehrere potenzielle Tormöglichkeiten eröffnen: Eine Verlängerungen zum ballfernen Pfosten, ein direkter Kopfball ins ballnahe Eck, ein missglückter Defensivkopfball ins eigene Tor – ist der Eckball gut getreten, haben die Verteidiger es meist schwer.

    1. Dänemark schlägt einen Eckball auf den ballnaher Pfosten und attackiert diesen.

    2. Der Ball wird auf den ballfernen Pfosten zu Delaney verlängert, ...

    3. ... der den Ball auf Hojlund köpft, der aus kurzer Distanz ins Tor trifft.

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