Spielanalyse

Italiens „Kulturwandel“: Vom Catenaccio zum Offensivfußball

Das Team von Roberto Mancini begeistert in der Vorrunde der EURO mit erfrischendem Angriffsfußball.

Das italienische Team von Roberto Mancini begeistert in der Vorrunde der EURO mit erfrischendem Angriffsfußball. ©2021 Getty Images
  1. Thomas Stillitano

    Thomas Stillitano, Redakteur der DFB-Trainerzeitschrift „Fußballtraining“, analysiert Qualitätsmerkmale im internationalen Fußball.

Mit der Verpflichtung von Trainer Roberto Mancini im Jahr 2018 wurde in der italienischen Nationalmannschaft ein neuer Weg eingeschlagen. Mancini lässt die Squadra Azzurra deutlich offensiver spielen, ohne dabei jedoch die Qualitäten des Verteidigens zu vernachlässigen. Bei der Europameisterschaft zeigen sie eindrucksvoll, welcher „Kulturwandel“ in ihrem Spiel Einzug gehalten hat.

Souveräne Vorrunde

Italien spielte eine souveräne EM-Vorrunde und sicherte sich bereits nach zwei Spielen das Achtelfinal-Ticket. Mit jeweils zwei 3:0-Siegen startete die Squadra Azzurra ins Turnier und ließ weder der Türkei noch der Schweiz eine Chance. Im letzten Gruppenspiel besiegten sie Wales 1:0 mit einer „B-Elf“. Der übliche Catenaccio ist Geschichte, stattdessen begeistern sie mit variablem und kreativem Angriffsfußball. Ein ungewohntes Bild für Zuschauer, die die italienische Nationalmannschaft nicht intensiv verfolgen. Doch nicht überraschend für diejenigen, die sie seit der Amtsübernahme von Roberto Mancini beobachten.

Spielaufbau-Struktur – Fokus auf linker Seite

Mancini lässt zwar in einem 4-3-3 spielen, jedoch ist die Struktur im Spielaufbau eine andere. Denn der rechte Außenverteidiger bildet gemeinsam mit den Innenverteidigern eine Dreierkette. Der linke Außenverteidiger schiebt hoch und der linke Flügelspieler positioniert sich im Halbraum. Auch zwei der Zentrumspieler postieren sich im linken Halbraum und/oder Zentrum, um diese Seite zu überladen. Diese Anordnung führt dazu, dass die Angriffe überwiegend über die linke Seite initiiert und vorgetragen werden. Auf der ballfernen Seite sorgt lediglich der rechte Flügelspieler für „Breite“.

Spielerische Lösungen unter Druck

Spielkontrolle über Ballbesitz ist ein wichtiger Bestandteil von Mancinis Spielidee. Selbst unter höchstem Druck sucht das Team die spielerische Lösung, lockt den Gegner so weit in die eigene Hälfte, dass folglich viel Raum im Rücken der letzten Abwehrreihe entsteht. Das Risiko, den Ball am eigenen Strafraum zu verlieren, nimmt Italien dabei in Kauf. Doch häufig gelingt es, sich aus diesen Situationen zu lösen, da die technische Qualität der Spieler unter Druck, die Positionierungen im Raum und Abstimmungen untereinander sehr gut sind. Insbesondere mit „Tief-Klatsch-Tief-Kombinationen“ über den Dritten überspielen sie den Gegner schnell.

    1. Jorginho wird vom ZOM unter Druck gesetzt und passt zu Torhüter Donnarumma. Mit dem Rückpass läuft der Schweizer weiter durch und hält den Druck aufrecht.

    2. Der rechte Innenverteidiger Bonucci steht im Deckungsschatten des Gegenspielers. Donnarumma passt nach außen zu Außenverteidiger Di Lorenzo und wird vom AV angelaufen.

    3. Di Lorenzo wird vom ST und AV unter Druck gesetzt. Jorginho ist im Zentrum anspielbar, Barella läuft im Bogen erst nach außen und dann in die Tiefe und öffnet so einen Raum, den Di Lorenzo für einen flachen, weiträumigen Pass in die Tiefe zu Immobile (nicht im Bild) nutzt.

    4. Immobile lässt zu Jorginho klatschen, während der ballferne Achter Locatelli in die Tiefe läuft und das Zuspiel über den Dritten erhält. Auch Barella läuft in die Tiefe.

    5. Es entsteht ein Schnellangriff im 3 gegen 3 mit dem ballführenden Locatelli sowie Barella und Insigne, die in die Tiefe sprinten. Das angedachte Zuspiel zu Insigne ist jedoch zu ungenau und wird vom IV abgefangen.

Tiki-Taka mit Rhythmuswechseln

Durch das Überladen der linken Spielfeldhälfte ist das Durchspielen dieser Zone zwar anspruchsvoll, doch durch Positionierungen im (Zwischen)Raum, Positionswechsel und schnellem Kurzpassspiel sind sie in der Lage, diese Spielsituationen zu lösen, um Unordnung im gegnerischen Defensivverbund zu schaffen.
Dieser starke Fokus auf die linke Seite sorgt dafür, dass der gegnerische Defensivverbund diesen Raum verdichtet, wodurch der ballferne Raum personell unterbesetzt ist. Dies nutzt Italien, um schnell auf den isolierten Flügelspieler zu verlagern, der dann das 1 gegen 1 sucht.

    1. Mit dem Ballführenden Chiellini, Jorginho, Spinazzola und Insigne überlädt Italien die Außen- und Halbspur. Chiellini passt zu Locatelli, der aufdreht.

    2. Mit dem diagonalen Pass von Locatelli zu Barella sind acht Türken in Ballnähe gebunden. Berardi schafft mit seiner Positionierung Breite.

    3. Barella passt zu Berardi, der in Richtung Strafraum dribbelt und vom AV aufgenommen wird.

    4. Berardi setzt sich im 1 gegen 1 mit dem AV außen durch.

    5. Berardi spielt in den Torraum, wo der Ball vom IV zum 1:0 ins Tor gelenkt wird.

Gegner binden und Räume öffnen

Einen weiteren wichtigen Faktor beim Herausspielen der Torchancen stellt das Binden von Gegenspielern ohne Ball dar, um Räume für Mitspieler zu schaffen. Ein entscheidender Spieler hierfür ist durch sein Entgegenkommen oder Tiefenlauf Mittelstürmer Ciro Immobile.

    1. Di Lorenzo passt in die Tiefe zu Barella, der mit dem ersten Kontakt entgegen der Spielrichtung an- und mitnimmt.

    2. Immobile läuft in die Tiefe, bindet den ZDM und öffnet so den Pass von Barella zu Locatelli.

    3. Barella passt zu Locatelli, der mit links ins lange Eck abschließt.

Umschalten nach Ballgewinn

Doch nicht nur aus dem Positionsangriff wissen die Italiener zu überzeugen, sondern auch in Umschaltmomenten. Denn nach Ballgewinnen spielt die Squadra Azzurra mit hoher Intensität und Vertikalität zum Tor und erspielt sich so eine Vielzahl von hochkarätigen Chancen. Zwei ihrer sieben Treffer in der Vorrunde erzielten sie nach Umschaltaktionen. In der vordersten Reihe besitzen sie mit Immobile, Insigne und Berardi schnelle Spieler und mit Locatelli und Barella zwei Achter, die ein gutes Gespür haben, die Konter „aus der zweiten Welle“ mitzugehen. Ein weiterer wichtiger Baustein ist die gute Absicherung über den zentralen Sechser, die beiden Innen- und einen Außenverteidiger. Dies gibt den Konterspielern die Sicherheit, die Umschaltsituation mit Mut und Risiko zu spielen.

    1. Das Duell um den zweiten Ball entscheidet Immobile gegen den ZDM für sich. Der Ball landet bei Locatelli.

    2. Locatelli passt direkt per Volley nach außen zu Berardi, der im höchsten Tempo in Richtung Tor dribbelt. Locatelli geht seinem Abspiel im Sprint nach.

    3. Berardi sucht das 1 gegen 1 mit dem LV und zieht außen vorbei. Mit Insigne, Barella, Immobile und Locatelli gehen fünf Italiener gegen sechs Schweizer nach. Insigne läuft auf den zweiten, Barella auf den ersten Pfosten, wohingegen Immobile den Rückraum und Locatelli das Zentrum besetzen.

    4. Berardi setzt sich durch und legt quer zu Locatelli, der aus kurzer Distanz ins Tor verwertet.

Bei uns existiert keine Stammelf, sondern nur die Elf, die von Beginn an auf dem Platz steht!
Roberto Mancini
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