Spielanalyse

Toranalyse zur Europameisterschaft

142 Tore gab es bei der Europameisterschaft zu sehen - doch wie wurden sie erzielt und wie vorbereitet? Wir setzen unsere Toranalyse der Vorrunde fort und blicken nun abschließend auf das gesamte Turnier zurück.

Das 1:0 von Federico Chiesa im Halbfinale gegen Spanien von der Hintertorkamera.
  1. Marius Fischer

    Marius Fischer, Redakteur der DFB-Trainerzeitschrift „Fußballtraining“, analysiert Qualitätsmerkmale im internationalen Fußball. Auf Twitter ist er unter dem Namen „Gegenpressing91" vor allem für seine Datenvisualisierungen bekannt.

Ein neuer Torrekord

Die Europameisterschaft konnte in Sachen Tore positiv überraschen. Während viele Experten nach einer langen Saison mit wenig Ruhepausen ein eher unspektakuläres Turnier erwarteten, wurde letztlich mit 142 Toren sogar der Torrekord bei einer EM gebrochen. Vor allem die Spiele der KO-Runde, in der Vergangenheit häufig von einer eher abwartenden Spielweise geprägt, konnten mit 3,29 Treffern pro Spiel überzeugen. Ebenfalls auffällig: Nur 17 Tore fielen unmittelbar nach einer Standardsituation (Freistoß oder Eckball) - das macht nur 12 Prozent aller Tore aus. Bei der Weltmeisterschaft vor drei Jahren lag dieser Wert noch bei 44 Prozent. Eine mögliche Erklärung: Nicht nur offensiv legen die Mannschaften einen immer größeren Fokus auf die "ruhenden Bälle", sondern auch defensiv gibt es immer größere Fortschritte: Gegnerische Abläufe werden analysiert, das eigene Defensivverhalten optimiert. Die folgende Grafik stellt alle wichtigen "Torfakten" nochmal kompakt dar.


Eine Flut an Eigentoren

Ein Trend, der vor allem in der Vorrunde für Aufsehen sorgte: Die hohe Anzahl an Eigentoren. Am Ende wurde der Ball ganze elf Mal von einem Spieler ins eigene Tor befördert. Ein EM-Rekord, der durchaus auf ein taktisches Mittel zurückzuführen ist: Immer mehr Teams versuchen in die Assist-Zone seitlich neben dem Fünfmeterraum vorzudringen, um von dort aus mit flachen, scharfen Hereingaben die Stürmer anzuspielen. Auf Grund der Nähe zum eigenen Tor, der hohen Passschärfe und der oftmals ungünstigen, weil zum eigenen Tor ausgerichteten Körperposition, können die Verteidiger den Ball oftmals nicht mehr kontrolliert klären und ihn nur noch unglücklich ins eigene Tor abfälschen. Die folgende Grafik zeigt, aus welchen Zonen die Tore vorbereitet wurden und macht den Fokus der Mannschaften auf die Assist-Zone nochmal deutlich:

/

Flügelverteidiger als Abschlussspieler

Von der häufigen Nutzung einer Dreierkette konnten vor allem die Flügelverteidiger profitieren. Sie hatten in ihrer Außenspur häufig viel Raum und fungierten daher als Ziel- und Abschlussspieler. Elf Tore erzielten sie im Turnier, dazu kamen eine Vielzahl an Torvorlagen und erzwungenen Eigentoren. Dabei überluden die Mannschaften oftmals eine Außenspur, um anschließend mit wenig Pässen in die gegenüberliegende Außenspur auf den freistehenden Flügelverteidiger zu verlagern, der mit viel Tempo ins Angriffsdrittel dribbeln konnte. Ebenfalls traten sie häufig als Zielspieler am ballfernen Pfosten bei Flanken in Erscheinung. Ein passendes Beispiel bildete das 1:0 der Engländer im Finale gegen Italien. Mit einer Flanke vom rechten Flügelverteidiger Kieran Trippier vorbereitet, schloss der linke Flügelverteidiger Luke Shaw am ballfernen Pfosten präzise per Volley ab.

    1. Nach einer Spielverlagerung dribbelt Trippier auf die Strafraumecke zu. Shaw startet in der linken Halbspur in den Strafraum.

    2. Trippier flankt an den ballfernen Pfosten in den Lauf von Shaw, ...

    3. ... der den Ball volley ins Tor schießt.

    1. Aké flankt aus der linken Außenspur an den Elfmeterpunkt. Flügelverteidiger Dumfries startet aus der Blindside des Verteidigers in den Zielraum ...

    2. ... und köpft den Ball ins Tor.

Distanzschüsse gegen tiefstehenden Gegner

Trotz der vielen Tore verteidigten einige Mannschaften zumeist kompakt im tiefen Block, um so wenig Raum wie möglich hinter der Abwehrkette anzubieten. Da sich viele Teams schwer taten, gegen diese tiefstehenden Gegner offene Passwege zu finden, haben sich Distanzschüsse als effektives Mittel erwiesen. Mit einer Ausnahme jedoch nicht aus großen Distanzen von über 30 Metern, sondern in- und außerhalb des Strafraumkreises. Hier positionierten sich die zentralen Mittelfeldspieler, um zweite Bälle oder abgeprallte Pässe anzunehmen und anschließend mit wenigen Kontakten aufs Tor zu schießen. Die folgende Grafik der jeweiligen Torzonen bestätigt den Bereich kurz hinter dem Strafraum als effektivste Zone neben der bereits thematisierten "Goldenen Zone" in und um den Fünfmeterraum herum.

    1. Nach einem abgeprallten Schnittstellenpass kommt Pogba in der Mittelspur an den Ball.

    2. Pogba nimmt den Ball an und schießt in vom Strafraumkreis aus ins Tor.

    1. Höjbjerg passt aus der rechten Halbspur auf Damsgaard, ...

    2. ... der den Ball in den Raum vor sich an- und mitnimmt und vom Strafraumkreis aus ins Tor schießt.

Fazit

Die Europameisterschaft hat viele Tore und einige interessante taktische Entwicklungen hervorgebracht. Während einige "Trends", wie die Fokussierung auf die "Goldenen Zone" und die "Assist Zone" nur eine Fortführung von bereits bekannten Entwicklungen waren, ist vor allem die "neue" taktische Rolle der Außen- und Flügelverteidiger eine Entdeckung dieser EM. Sie sind nicht mehr nur primär als Vorbereiter, sondern zunehmend auch als Abschlussspieler in Erscheinung getreten. Ebenfalls wird es interessant sein zu beobachten, ob sich die Tendenz zum Rückgang der Tore nach Standardsituationen auch im Vereinsfußball zeigen wird.

Weiterführende Links

Weitere Spielanalysen

Exasol - Partner der DFB-Akademie

Diese datenbasierte Analyse ist in Zusammenarbeit mit unserem Partner Exasol entstanden. 

Mehr erfahren