Spielanalyse

Vorschau EURO-Finale: Italien gegen England

Im Vorfeld des Endspiels beleuchten wir die wesentlichen taktischen Merkmale beider Teams.

Im EURO-Finale kommt es zum Trainerduell zwischen Roberto Mancini und Gareth Southgate. © 2021 Getty Images
  1. Christopher Toetz

    Christopher Toetz, Redakteur der DFB-Trainerzeitschrift „Fußballtraining“, analysiert Qualitätsmerkmale im internationalen Fußball.

Im EURO-Finale am 11. Juli spielen mit Italien und England zwei große Fußballnationen um die Krone Europas. An den Seitenlinien treffen die beiden Trainer Roberto Mancini und Gareth Southgate aufeinander. Was könnten die beiden Trainer taktisch geplant haben?

Italien

Unscheinbarer Strukturgeber

Nach der Vorrunde haben wir bereits den italienischen "Kulturwandel" vom Catenaccio zum Offensivfußball betrachtet. Die Entwicklung beruht vor allem auf klaren gruppen- und mannschafstaktischen Abläufen, die jedoch erst mit der individuellen Qualität der einzelnen Spieler ihre Wirkung entfalten. Zu diesen Akteuren zählt Jorginho, der als "Sechser" den Balancespieler zwischen der Defensive und Offensive gibt. Gerade bei eigenem Ballbesitz ist er unverzichtbar, da er stabile Kombinationen ermöglicht und eine konstante Unterstützung beim Überspielen des gegnerischen Pressings ist. Dafür bietet er sich oftmals im Raum zwischen der gegnerischen Angriffs- und Mittelfeldlinie an, wo er aufgrund seiner klugen Positionierung und seines permanenten Umblickverhaltens stets anspielbar ist. Dadurch hat er ein sicheres Gespür für die vorherrschenden Spielsituationen und erkennt die optimalen Räume für die einfache Spielfortsetzung, die er mit wenigen Kontakten nutzt. Er sorgt maßgeblich für den Erhalt des eigenen Ballbesitzes und erhöht damit auch die defensive Stabilität. Jorginho lässt sich nur selten in Zweikämpfe verwickeln und ist für den Gegner meist schwierig zu attackieren.

    1. Nach einem Rückpass aus dem Mittelfeld gerät Italien unter Druck, weshalb Bonucci zu Torhüter Donnarumma passt und der eigenen Mannschaft die Möglichkeit für einen ruhigen Spielaufbau gibt. Mit dem Pass fächert Italien in der ersten Linie auf und Jorginho besetzt den "Sechser"-Raum.

    2. Dabei blickt sich Jorginho mehrmals um, nimmt die Mit- und Gegenspieler wahr und fordert ein Zuspiel von Donnarumma, das er auch erhält.

    3. Mit dem Pass von Donnarumma rücken sowohl der zentrale defensive Mittelfeldspieler (ZDM) als auch der Außenstürmer (AS) vor. Mit seinen Schulterblicken behält Jorginho jedoch die Übersicht, ...

    4. ... weshalb er das Pressing mit einer einfachen Verlagerung zum freistehenden Di Lorenzo aushebeln kann.

Ballverlust als Chance

Für die Mannschaft von Cheftrainer Mancini gibt es beim Umschalten nach Ballverlust – gerade im vorderen Drittel – nur eine Devise: Gegenpressing. Die Italiener orientieren sich reaktionsschnell zum Ball und überzeugen dabei mit einer positiven Grundaggressivität, wodurch sie sofort Druck auf den Ballführenden erzeugen können. Sie nutzen den Moment, in dem der Gegner selbst noch nicht für den Ballbesitz organisiert ist und die Chance zur Rückeroberung des Balles am größten ist. Am Ort des Ballverlustes sind sie in der Regel mit vielen Spielern vertreten, sodass eine Überzahl hergestellt werden kann. Gelingt der Ballgewinn mit einer vorwärtsgerichteten Bewegungsdynamik, starten sie direkt einen Gegenangriff. Sollte jedoch das Gegenpressing nicht möglich sein oder sich der Gegner daraus befreien können, dann gilt das Prinzip: Den direkten Weg versperren, hinter den Ball kommen und aus dem geordneten Pressing agieren, woraus bestenfalls neue Konterangriffe entstehen.

    1. Cristante spielt einen langen Pass zu Di Lorenzo, der in den Rücken der Abwehr einläuft. Der gegnerische Außenverteidiger (AV) erkennt die Absicht jedoch frühzeitig, setzt sich nach hinten ab ...

    2. ... und fängt den Ball ab. Anschließend spielt er umgehend zum Stürmer (ST) in die Tiefe.

    3. Der ST wird mit der Annahme sofort vom vorherigen Passgeber Cristante sowie dem vorrückenden Tolói gedoppelt.

    4. Gleichzeitig rücken weitere Italiener in Ballnähe und erhöhen den Druck. Letztlich erobert Tolói den Ball vom gegnerischen ST und passt zu Immobile in die Tiefe, der umgehend zum Tor an- und mitnimmt.

    5. Anschließend sucht er den schwierigen Torschuss aus der Ferne, der zum 3:0 in der ballfernen Ecke einschlägt.

Jetzt fehlt nur noch ein Zentimeter. Wir werden Sonntag mit der gleichen Aggressivität auf den Platz gehen, um das nach Hause zu bringen, was uns seit über 50 Jahren fehlt.
Leonardo Bonucci, italienischer Nationalspieler

England

Stabilität und X-Faktor Kane

Im bisherigen Turnierverlauf überzeugt das Team von Trainer Gareth Southgate mit einer stabilen Spielanlage, welche auf einer bemerkenswerten taktischen Flexibilität beruht. Denn die Engländer wechseln je nach Gegner und Spielsituation zwischen den Formationen 4-2-3-1, 4-3-3 und 3-4-3. Die Qualität des Kaders ermöglicht die reibungslose Anpassung zwischen den Systemen. Diese kann durch die zahlreichen verschiedenen Spielertypen – gerade in der Offensive – oftmals variabel interpretiert werden.
Insgesamt geht das englische Team aber sowohl in der Defensive als auch in der Offensive wenig Risiko ein. Sie sind oftmals auf eine klare Struktur bedacht, die sich zwar positiv auf den Spielaufbau oder die Absicherung nach Ballverlusten auswirkt, jedoch im Gegenzug die offensive Durchschlagskraft limitiert. Wieviel Torgefahr die "Three Lions" in einem Spiel letztlich ausstrahlen können, liegt maßgeblich an der Leistung von Kapitän Harry Kane. Nach einer durchwachsenen Vorrunde verbucht der Stürmer mittlerweile vier Turniertreffer und nimmt im vorderen Drittel eine wichtige Rolle ein, in dem er die klare Struktur zum Teil aufbricht und eine Verbindung zwischen den offensiven Mitspielern darstellt. Dafür bietet er sich immer wieder im Raum zwischen der gegnerischen Abwehr- und Mittelfeldlinie an. Diese Position ist für ihn ideal, um die Angriffe mit Ablagen, kurzen Dribblings und Schnittstellenpässen auf die Außenstürmer zu beschleunigen, bevor er selbst nachstartet und sich in Abschlussposition bringt.

    1. Saka passt zurück zum freistehenden Walker. Mit dem Pass lässt sich Kane ins Mittelfeld fallen, ...

    2. ... wobei er sich mehrmals umblickt und die Situation um ihn herum wahrnimmt. So erkennt er auch den Laufweg von Saka, ehe er das Zuspiel von Walker erhält.

    3. Kane dreht mit dem ersten Kontakt auf und passt mit dem zweiten Kontakt zu Saka in den Lauf, der in den Raum im Rücken der gegnerischen Abwehr einläuft.

    4. Saka erläuft das Zuspiel und passt mit dem zweiten Kontakt in die Mitte, wo Sterling bereits auf den Querpass lauert. Letztlich ist es jedoch der heraneilende Innenverteidger (IV), der die Hereingabe ins eigene Tor lenkt.

Gefahr nach Standards

Spätestens seit der WM 2018, als sie sechs(!) ihrer zwölf Treffer nach Ecken oder Freistößen erzielten, gehören die Engländer zu den torgefährlichsten Mannschaften nach einem ruhenden Ball. Zwar ist der momentane Wert bei diesem Turnier weit weniger hoch, doch mit einem Anteil von 20% bei zehn Treffern zählen sie zu den führenden Nationen. Zudem fiel bei der qualitativen Auswertung der Standards auf, dass sie vergleichsweise viele Abschlüsse aus diesen Situationen erzielen konnten. Das ist kein Zufall, denn Gareth Southgate legt auf dieses Thema höchste Priorität und hat sich mit Experten aus der amerikanischen NFL (National Football League) und NBA (National Basketball Association) über das gezielte Öffnen von Räumen ausgetauscht hat. Hierbei spielen einstudierte Laufwege, das Wegblocken des Gegners, das Nutzen der Blindside des Gegners sowie das passende Timing eine wichtige Rolle, um sich den entscheidenden Vorsprung zu erarbeiten.

    1. Eckball: England agiert mit fünf Spieler im Strafraum, wobei sie im Rückraum eine 4-gegen-3-Überzahl haben. Dabei stehen drei Engländer den drei Verteidigern gegenüber, wohingegen Maguire (1) eine leicht abgesetzte Position einnimmt.

    2. Mit dem Anlauf des ausführenden Trippier (2) laufen die drei vorderen Engländer in Richtung ballnahen und -fernen Pfosten, ziehen so ihre Gegenspieler mit und öffnen den Rückraum, wo Maguire (1) nun freisteht.

    3. Mit der Hereingabe von Trippier (2) blockt Sterling (3) seinen Gegenspieler (A), sodass dieser nicht vorrücken kann und der Rückraum offen bleibt. Ein weiterer Gegenspieler (B) erkennt die Absicht frühzeitig und rückt zum einlaufenden Maguire (1) vor.

    4. Doch letztlich ist der Weg zu lang, sodass Maguire (1) mit wenig Gegnerdruck abschließen kann. Der Kopfball landet jedoch in den Armen des Torwarts (TW).

Wir wissen, dass wir im ganzen Land Unterstützung haben. Das ist ein tolles Gefühl. Wir sind definitiv bereit, die Spieler sind bereit.
Gareth Southgate, Nationaltrainer England
Ausblick

Eines steht fest: Beide Teams verfügen über eine hohe taktische sowie individuelle Qualität. Zwar geht Italien mit seiner offensiven Spielidee als leichter Favorit ins Finale, doch im Gegenzug verfügen die Engländer mit ihrer Stabilität sowie den gefährlichen Standardsituationen über die passenden Werkzeuge, um das Spiel für sich zu entscheiden.